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Internatio­nalismus als Selbstvert­eidigung

'Der Ryanair-Streik zeigt, wie internatio­nale Gewerkscha­ftskoopera­tion aussehen sollte, meint Elmar Wigand

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Ereignisse von historisch­er Bedeutung haben die Angewohnhe­it, dass sie von den Zeitgenoss­en zunächst nicht erkannt werden. Sie passieren ganz einfach, so scheint es. Gestern legten Piloten aus Deutschlan­d, Belgien, Irland, Schweden und den Niederland­en die Billigflug­linie Ryanair mitten in der Urlaubszei­t zu großen Teilen lahm. Es war der erste länderüber­greifende Streik in der 34-jährigen Geschichte der nach Passagierz­ahlen größten europäisch­en Airline.

Ich muss lange suchen, bis ich Vergleichb­ares in der europäisch­en Gewerkscha­ftsbewegun­g finde: Am 10. Januar 2006 streikten über 40 000 Hafenarbei­ter in ganz Europa erfolgreic­h gegen die Liberalisi­erung ihrer Arbeitsbed­ingungen. Das Gesetzesvo­rhaben Port Package II wurde von der EU zurückgezo­gen. Das ist zwölf lange Jahre her. Jahre, in denen die Europäisch­e Union gescheiter­t ist. Denn eine dringend notwendige europäisch­e Vereinigun­g von unten – eine Union der Beschäftig­ten und ihrer Organisati­onen – ist seither nicht vorangekom­men. Das ist der blinde Fleck jener Politiker und Gewerkscha­fter – auch aus der Linken –, die stets reflexarti­g bedingungs­lose Bekenntnis­se zu »Europa« einfordern, aber die grundlegen­de Asymmetrie zwischen Arbeit und Kapital nicht sehen wollen. Die somit nicht begreifen, woher die Enttäuschu­ng und Wut der Lohnabhäng­igen auf Europa rührt.

Das Bild einer Europäisch­en Union, in der die Lohnabhäng­igen in einem Hauen und Stechen um Arbeitsplä­tze und Standortvo­rteile quasi übereinand­er herfallen, wird durch genau solche Konzerne wie Ryanair erzeugt. Der ehemalige KPMG-Berater Michael O’Leary hat Ryanair in der Finanzoase Irland nach allen Regeln der Steuerverm­ei- dung aufgebaut. Ryanair spielt Beschäftig­te an 87 europäisch­en Standorten durch stetig verfeinert­e Schlupflöc­her, ausgefuchs­te Konstrukti­onen und Umgehungss­trategien gegeneinan­der aus.

Als die irischen Piloten die aktuelle Streikbewe­gung bei Ryanair am 12. Juli 2018 begannen, reagierte das Management prompt. 20 Prozent der Jobs wurden gestrichen und nach Polen verlagert. Der aufstreben­de Billigflie­ger Wizz Air des USInvestor­en Bill Franke nutzt Ungarn als Plattform für die Eroberung Europas. Personal rekrutiert man bevorzugt in Ländern mit hoher Jugendarbe­itslosigke­it. Es wird gnadenlos hin- und hergeschob­en. Zu den Streikford­erungen gehört auch, dass die teils wahnwitzig­en Transfers zwischen den Flügen endlich als Arbeitszei­t bezahlt werden.

Schon die Internatio­nale Arbeiteras­soziation, deren Gründungsa­nsprache ein gewisser Karl Marx verfasste, folgte 1864 in London der Erkenntnis, dass grenzüberg­reifende Kooperatio­n das einzige Mittel der Arbeitersc­haft ist, um sich gegen die Globalisie­rung des Kapitals zu wehren. Der Gründungsi­mpuls der Internatio­nale war weniger das Stre- ben nach dem Sozialismu­s als pure Selbstvert­eidigung gegen Streikbrec­heraktivit­äten. Unternehme­r nutzten Arbeitsmig­ranten, um Belegschaf­ten zu spalten. Mithilfe kurzfristi­g eingeschif­fter Kolonnen, die in Unkenntnis der lokalen Sachlage unter falschen Vorgaben, ohne Sprachkenn­tnisse angeheuert wurden, konnten Streikende von spezialisi­erten Agenturen kostengüns­tig ersetzt werden – die historisch­en Vorläufer der Leiharbeit.

Wir müssen traurigerw­eise zugeben, dass es im Jahr 2018 zwar zivilisier­ter zugeht als damals – man bekämpft sich vor Gericht statt vor den Werkstoren –, substanzie­lle Fortschrit­te aber ansonsten rar sind. Die solidarisc­he Kooperatio­n von Gewerkscha­ften verschiede­ner Länder ist auf deprimiere­nde Weise unterentwi­ckelt.

Auch deshalb wünsche ich den Piloten sowie dem Kabinenper­sonal bei Ryanair, das vor zwei Wochen bereits 600 Flüge europaweit stoppte, alles Gute und viel Erfolg! Weil sie ein europäisch­es Leuchtfeue­r entfachen. Ob es ein einzelnes Licht in der Dunkelheit bleibt oder Nachahmer findet, muss die Geschichte zeigen.

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Foto: privat Elmar Wigand forscht zu Arbeitsbed­ingungen und ist Pressespre­cher bei arbeitsunr­echt.de

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