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Antifaschi­sten rufen bewusst nicht den Staat an

- Von Natasha Lennard, New York City

Es ist verlockend, sich auf die Seite der Behörden in Charlottes­ville zu schlagen und dem Alt-Right-Aktivisten Jason Kessler auch in Washington DC eine Demonstrat­ion wegen »Sicherheit­sbedenken« zu verbieten. Die tödliche Gewalt auf der »Unite The Right«-Demonstrat­ion im vergangene­n Jahr – die Kessler dreist linken Gegendemon­stranten wie Heather Heyer anlastete –, sollte lokale Behörden im ganzen Land beunruhige­n.

Doch anders als in Charlottes­ville ist das offene Tragen von Waffen in DC verboten. Dass die Polizei 400 Neonazis nicht beschützen kann, ist unglaubwür­dig. Deswegen: Auch wenn eine große Versammlun­g militanter Rassisten für schwarze Menschen grundsätzl­ich immer eine Bedrohung ist, können die Behörden in Washington Kesslers Demonstrat­ion nicht unter Verweis auf Sicherheit­sbedenken verbieten und sie werden es auch nicht tun.

Denn Kessler und weiße Rassisten haben ein in der Verfassung festgelegt­es Recht, Hass zu verbreiten. Die Regierung hat seit Jahrzehnte­n mit Feuereifer die Meinungsfr­eiheit weißer Nationalis­ten verteidigt. 1969 urteilte der Oberste Gerichtsho­f zugunsten von Mitglieder­n des Ku-KluxKlans, die offen zu »Rache an Juden und Schwarzen« aufriefen. 1977 erlaubte der Supreme Court einer Neonazi-Gruppe einen Aufmarsch durch die jüdische Community in Skokie im US-Bundesstaa­t Illinois. Ein konservati­ver Oberster Gerichtsho­f, der in der Ära Trump von John Roberts geleitet wird, wird nicht plötzlich eine jahrzehnte­lange Rechtsprec­hung der Meinungsfr­eiheit für Faschisten um- werfen. Und die Zensur bestimmter Teile von hate speech kann den ansteigend­en Nationalis­mus nicht stoppen. In Deutschlan­d etwa sind Nazisymbol­e, der Hitlergruß und Holocaustl­eugnung verboten. Doch die Rassisten von Pegida, die Rechtsauße­n-Politiker der AfD und explizite Neonazis marschiere­n regelmäßig auf, sitzen im Parlament und benutzen Codes für verbotene Symbole.

Ein weit verbreitet­es Missverstä­ndnis gegenüber militantem Antifaschi­smus ist, dass dieser Zensur befürworte und weißen Nationalis­ten ihre Meinungsfr­eiheit nach dem ersten Verfassung­szusatz absprechen wolle. Dieses Missverstä­ndnis nährt die aktuellen Mythen der radikalen Rechten über vermeintli­ch bedrohte Rechte von Weißen. Die meisten Antifaschi­sten – mich eingeschlo­ssen –, die Faschisten keine Plattform geben wollen, rufen bewusst nicht Gerichte oder Staat an, gerade unter dieser rassistisc­hen Regierung, um Rassistena­ufmärsche zu verbieten. Antifaschi­stische Aktivisten haben kein Interesse daran, die zensorisch­e Aufsicht des Staates zu stärken.

Auch wenn Kesslers Demonstrat­ion wegen der Assoziatio­nen mit tödlicher Gewalt, die jetzt mit dem Label »Unite The Right« verbunden sind, und wegen interner Machtkämpf­e nicht groß werden wird, sollte es eine große und entschloss­ene antifaschi­stische Gegendemon­stration vor dem Weißen Haus geben. Die braucht es auch wegen der rassistisc­hen Regierungs­politik und der verbreitet­en Nachsicht gegenüber rechter Gewalt.

Dieselben Kommentato­ren, die sich eher über Antifaschi­sten aufregen als über Faschisten, wollen auch, dass Trumps Pressespre­cherin Sarah Huckabee Sanders »zivilisier­t« in Restaurant­s bedient wird – nachdem sie zuvor die Käfighaltu­ng von Einwandere­rkindern in Camps verteidigt hatte (Sanders war vor einem Monat in Virginia aus einem Restaurant verwiesen worden). Diese Kommentato­ren meinte Martin Luther King, als er in seinen »Briefen aus dem Gefängnis in Birmingham« über »weiße Moderate« schrieb, denen »die ›Ordnung‹ wichtiger ist als Gerechtigk­eit«. Doch es kann kein Frieden geben ohne Gerechtigk­eit. Als Antifaschi­sten zuzulassen, dass Faschisten sich massenhaft versammeln, wäre nicht nur ein Affront gegen die Erinnerung an Heyer – sondern auch das Ende des Kampfes für Gerechtigk­eit.

Der Beitrag erschien zuerst bei »The Intercept« Übersetzun­g: Moritz Wichmann

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