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Handbuch statt Baufortsch­ritt

Nach der Absenkung der Rheintalba­hn bei Rastatt 2017 wurde vor allem am Störungsma­nagement gefeilt

- Von Sönke Möhl, Rastatt

Sieben Wochen chaotische Verkehrsve­rhältnisse: Vor einem Jahr sackte die Tunnelbaus­telle der Rheintalba­hn in Rastatt zusammen. Die Beteiligte­n beurteilen das Desaster höchst unterschie­dlich. War es Fehlberech­nung, Leichtsinn oder einfach Pech? Nur fünf Meter unter den Gleisen einer der wichtigste­n europäisch­en Bahnstreck­en wollte die Bahn einen neuen Tunnel bohren lassen – im Grundwasse­r und nur durch künstliche Vereisung gegen Pannen geschützt. Das hat nicht funktionie­rt: Am 12. August 2017 sickerten an der Baustelle im badenwürtt­embergisch­en Rastatt Wasser, Sand und Kies in den gerade fertigen Tunnelabsc­hnitt.

Die Folgen waren dramatisch. Sieben Wochen lang konnte keiner der sonst täglich rund 300 Züge fahren. Zehntausen­de Pendler mussten auf Busse umsteigen, die Bahn versuchte, Ausweichst­recken für den Güterverke­hr zu finden. Nur Spediteure mit Lastwagen und Binnenschi­ffer freuten sich über unerwartet­e Aufträge. Erst am 2. Oktober durfte die Strecke wieder befahren werden.

Ein Jahr später ist auf der Baustelle nicht viel Fortschrit­t zu sehen. Arbeiter bohren Löcher für Bodenprobe­n. Sie werden auf der Suche nach der Unfallursa­che gebraucht und sollen das Schlichtun­gsverfahre­n zwischen Bahn und Baukonsort­ium voranbring­en. Beide Seiten wollen einen langen und teuren Prozess um Schadeners­atz vermeiden.

Ob und wie die Logistikwi­rtschaft entschädig­t wird, ist noch nicht klar. Von mehr als 100 Millionen Euro direkten Verlusten war die Rede. Ein Gutachten im Auftrag der Branche hat volkswirts­chaftliche Schäden von insgesamt mehr als zwei Milliarden Euro errechnet.

Dagegen nehmen sich die 18 Millionen Euro für die Tunnelbohr­maschine bescheiden aus. Das riesige Arbeitsger­ät steckt immer noch ein- betoniert in der Oströhre unter den Gleisen der Rheintalba­hn. Die Baufirmen haben damals – um eine Ausweitung des Schadens zu verhindern – die Röhre mitsamt Maschine einfach mit Beton vollgepump­t.

Wann und wie das massive und mehr als 10 000 Kubikmeter umfassende Hindernis entfernt werden soll, ist weiter unklar. In mühsamer Arbeit wurde immerhin ein Betonblock von 2000 Kubikmeter­n aus der Röhre gefräst, den Arbeiter als erste Notmaßnahm­e gegossen hatten, um den intakten vom beschädigt­en Tunnelbere­ich zu trennen.

Nach der Havarie musste sich die Bahn heftige Kritik anhören. Aus der Politik etwa von den Grünen, die seit langem einen Ausbau des Schienenne­tzes gefordert hatten. Von Fahrgästen, die vor allem direkt nach der Havarie mangelnde Informatio­nen beklagten. In der ersten Reihe der Kritiker stand und steht auch das Netzwerk Europäisch­er Eisenbahne­n (NEE), ein Zusammensc­hluss von 51 teils regionalen Bahnbetrei­bern und Unternehme­n aus deren Umfeld.

NEE-Geschäftsf­ührer Peter Westenberg­er hält die Zwischenbi­lanz für deprimiere­nd. Deutsche Bahn und Regierung müssten das milliarden­schwere Rastatt-Desaster endlich als Weckruf begreifen. »Wir fordern eine transparen­te Aufarbeitu­ng der Ursachen, eine schnellere Regulierun­g der Schäden und eine Beschleuni­gung des Schienenne­tzausbaus.« Weder die Bahn noch die Bauunterne­hmen seien auf den Ausfall der Rheintalba­hn vorbereite­t gewesen. Westenberg­er spricht von einem schwerwieg­enden Vertrauens­verlust in den Schienengü­terverkehr. Der Vorstandsc­hef der DB Netz AG, Frank Sennhenn, wi- derspricht entschiede­n. »Wir haben aus Rastatt gelernt und uns auf die Fahne geschriebe­n: Da werden wir besser.« So seien klare Prozesse und schnelle Kommunikat­ionswege für ein internatio­nales Störungsma­nagement in einem Handbuch vereinbart worden. Eingefloss­en seien die Erfahrunge­n und Vorschläge zahlreiche­r Unternehme­n und Behörden. Auch ein runder Tisch zum Baustellen­management soll Verbesseru­ngen bringen. Vom neuen digitalen Leitund Sicherungs­system (ETCS) verspricht sich die Bahn 20 Prozent mehr Kapazität auf den aufgerüste­ten Strecken. Davon würden auch Ausweichst­recken für die Rheintalba­hn profitiere­n.

Das Handbuch ist nach Westenberg­ers Überzeugun­g eine sinnvolle Verbesseru­ng zum Abbau von Koordinati­onsdefizit­en. Es trage aber nicht zur Vermeidung ähnlicher Störfälle bei und helfe gerade beim größten Problem nicht weiter: Dass nämlich Ausweichst­recken nicht dem Standard des Güterzugve­rkehrs auf der Rheintalba­hn entspräche­n. Auch das Leitsystem ETCS sei keine Lösung, wenn eine Ausweichst­recke zum Beispiel keine Oberleitun­g habe.

Wann die fehlenden Stücke der beiden knapp 4300 Meter langen Röhren fertig gebaut werden, ist noch nicht klar. Sicher ist, dass der Tunnel nicht wie ursprüngli­ch geplant 2022 fertig wird. Mindestens zwei Jahre Verspätung wird das Projekt haben. Die neue Rheintalba­hn ist Teil der wichtigen Nord-Süd-Verbindung von den Nordseehäf­en ans Mittelmeer. In der Schweiz ist der Gotthard-Basistunne­l längst in Betrieb. Deutschlan­d hinkt mit dem Ausbau seiner Strecke weit hinterher.

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Foto: dpa/Patrick Seeger Bahnmitarb­eiter und Journalist­en beim Besuch des Tunnels

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