Der Lohn der Nacht
Wer viel schläft, dem wird häufig unterstellt, er sei träge. Ein Fehlschluss.
Immer mehr Menschen legen heute Wert auf eine gesunde Lebensweise. Sie ernähren sich vegetarisch oder vegan und treiben regelmäßig Sport. Am Schlaf hingegen sparen sie häufig. Denn wer lange schläft und erst vergleichsweise spät aufsteht, gilt gemeinhin als träge und wenig leistungsorientiert.
Der historischen Überlieferung zufolge kamen auch viele Größen des Geistes nur mit wenig Schlaf aus: Leonardo da Vinci, Voltaire, Benjamin Franklin, Napoleon Bonaparte, der einmal lapidar feststellte: »Vier Stunden schläft der Mann, fünf die Frau, sechs ein Idiot.« Dass Donald Trump, nun wahrlich keine Geistesgröße, nach eigenen Angaben lediglich drei Stunden schläft, sei hier kommentarlos hinzugefügt. Der berühmte Erfinder Nikola Tesla hielt zu viel Schlaf ebenfalls für kontraproduktiv. Er gewöhnte sich daher an, nur zwei Stunden am Tag zu schlafen und erlitt mit 25 einen psychischen Zusammenbruch.
In der modernen kapitalistischen Leistungsgesellschaft, die kaum jemanden zur Ruhe kommen lässt, gilt Schlafen als vertane Lebenszeit. Denn im Schlaf kann man weder arbeiten noch konsumieren oder sonst was tun. »Kurzschläfer« sind deshalb auf dem Jobmarkt gefragt, namentlich in den Chefetagen, wo die erfolgreichsten Manager angeblich jene sind, die am wenigsten schlafen. Wer dennoch einmal zur Unzeit müde wird, dem hilft die Pharmaindustrie, um länger wach zu bleiben. Gemäß dem Motto: Schlafen kannst du, wenn du tot bist!
Dass zu viel Schlaf geistig träge mache, wird gelegentlich auch in Wissenschaftsbeiträgen behauptet. Zum Beleg dient häufig eine Studie der Firma Memorado, die sich selbst als »Europas führendes Online-Fitnessstudio für den Kopf« bezeichnet. Danach erbrachten Personen, die nur vier Stunden pro Nacht schliefen, bessere kognitive Leistungen als Menschen, deren Nachtruhe sechs und mehr Stunden währte. Allerdings wurde die Studie in keiner Fachzeitschrift veröffentlicht. Und auch mehrfache Anfragen des unabhängigen Wissenschaftsportals »Medizin transparent« nach dem vollen Studientext ließ Memorado unbeantwortet. Das nährt den Verdacht, dass es sich bei der Essenz der Studie lediglich um eine mit wissenschaftlichem Anstrich versehene PR-Meldung handelt.
In zahlreichen anderen Studien konnte der von Memorado behauptete Zusammenhang nicht nachgewiesen werden. Schlafmangel beeinträchtigt danach die Aufmerksamkeit, das Gedächtnis und die geistige Reaktionsfähigkeit eines Menschen. Dies wurde unlängst auch in einem Experiment bestätigt, das ein Forscherteam um Siobhan Banks von der University of Pennsylvania durchführte. In einem Schlaflabor durften 142 zufällig ausgewählte Personen fünf Nächte hintereinander jeweils nur vier Stunden schlafen. Den Mitgliedern einer Kontrollgruppe wurden dagegen zehn Stunden Schlaf gewährt. Als Banks und ihre Kollegen die Daten zur kognitiven Leistungsfähigkeit in beiden Gruppen verglichen, stellten sie fest: Die »Kurzschläfer« hatten im Vergleich zu den »Langschläfern« in verschiedenen Tests merklich schlechtere Leistungen erbracht. In der sechsten Nacht erhielten einige der ermüdeten Probanden die Gelegenheit, länger zu schlafen. Ihre Testleistungen wurden dabei umso besser, je mehr versäumten Schlaf sie aufholen konnten. Das alles spricht dafür, dass Schlafmangel mit einem Abbau der geistigen Leistungsfähigkeit einhergeht. Zur Absicherung der Ergebnisse bedarf es jedoch weiterer Erhebungen mit größeren Teilnehmerzahlen.
Die Resultate der Banks-Studie sind leichter fassbar, wenn man sich vor Augen führt, welche Aufgaben der Schlaf erfüllt. Lange galt dieser als inaktiver Zustand des Menschen, als »kleiner Bruder des Todes«, wie der Volksmund sagt. Tatsächlich nehmen Herzfrequenz und Blutdruck in bestimmten Schlafphasen ab, und die Körpertemperatur sinkt. Im Gehirn herrscht dagegen weiterhin rege Aktivität, die mittels Elektroenzephalographie (EEG) auch gemessen werden kann. Doch anders als im Wachzustand ist das Gehirn im Schlaf vor allem mit Umbau- und Reparaturarbeiten beschäftigt. Das heißt, wichtige Informationen des Tages werden in bereits bestehende kognitive Kategorien eingeordnet, überflüssige dagegen entsorgt. Anders ausgedrückt: Vieles, was wir am Tag lernen, gelangt während des Schlafs in unser Langzeitgedächtnis und ist so bei Bedarf abrufbar. Zudem können sich Nervenzellen, die im Wachzustand besonders stark beansprucht werden, im Schlaf regenerieren. Ist dieser Prozess gestört, etwa durch extrem langes Wachbleiben, kommt es mitunter zu kognitiven Fehlleistungen. Menschen sind dann nicht mehr fähig, Realität und Trugbild voneinander zu unterscheiden.
Schlafmangel kann ernstliche Folgen haben, nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für andere Menschen. So spielt bei etwa 20 Prozent aller schweren Verkehrsunfälle die Übermüdung des Fahrers eine maßgebliche Rolle. Wer mehrere Nächte hindurch weniger als sechs Stunden schläft, so haben Forscher ermittelt, reagiert in vielen Fällen so, als hätte er ein Promille Alkohol im Blut. Ingo Fietze, der Leiter des Interdisziplinären Schlafmedizinischen Zentrums an der Berliner Charité, hegt keinen Zweifel: »Das Bild des leistungsfähigen Managers oder Politikers mit wenig Schlaf ist eine Mär. Man braucht mindestens sechs Stunden, um seine psychische Leistungsfähigkeit am nächsten Tag abrufen zu können.« Ausnahmen mag es hier durchaus geben. Aus sozialer Perspektive sei es jedoch nicht vertretbar, Menschen zu ermuntern, möglichst wenig zu schlafen, betont Fietze, der seinem jüngst erschienenen Buch den bezeichnenden Titel »Die übermüdete Gesellschaft« gab.
Etwas Erstaunliches geschieht derzeit in den USA. Hier gewinnt ein Trend an Bedeutung, der, wie man annehmen darf, irgendwann auch Deutschland erreichen wird. Die damit verbundene Botschaft brachte die »New York Times« so auf den Punkt: »Schlaf ist das neue Statussymbol«. Immer mehr Menschen in den Vereinigten Staaten sind offenbar überzeugt, dass ausreichend Schlaf ihr Wohlbefinden und damit auch ihr Leistungsvermögen steigert. Das USGesundheitsunternehmen Aetna hat daraus Konsequenzen gezogen. Es zahlt allen Mitarbeitern, die nachweisen können, dass sie 20 Nächte hintereinander sieben und mehr Stunden geschlafen zu haben, pro Nacht 25 Dollar.
Am Ende muss jeder Mensch natürlich für sich selbst herausfinden, wie viele Stunden Schlaf er benötigt, um fit und leistungsfähig zu sein. Vorschriften wären hier fehl am Platze, so wie es unangebracht ist, jemanden, der acht oder neun Stunden Schlaf zur Erholung braucht, als Faulenzer oder Leistungsverweigerer zu bezeichnen.