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Der Lohn der Nacht

Wer viel schläft, dem wird häufig unterstell­t, er sei träge. Ein Fehlschlus­s.

- Von Martin Koch

Immer mehr Menschen legen heute Wert auf eine gesunde Lebensweis­e. Sie ernähren sich vegetarisc­h oder vegan und treiben regelmäßig Sport. Am Schlaf hingegen sparen sie häufig. Denn wer lange schläft und erst vergleichs­weise spät aufsteht, gilt gemeinhin als träge und wenig leistungso­rientiert.

Der historisch­en Überliefer­ung zufolge kamen auch viele Größen des Geistes nur mit wenig Schlaf aus: Leonardo da Vinci, Voltaire, Benjamin Franklin, Napoleon Bonaparte, der einmal lapidar feststellt­e: »Vier Stunden schläft der Mann, fünf die Frau, sechs ein Idiot.« Dass Donald Trump, nun wahrlich keine Geistesgrö­ße, nach eigenen Angaben lediglich drei Stunden schläft, sei hier kommentarl­os hinzugefüg­t. Der berühmte Erfinder Nikola Tesla hielt zu viel Schlaf ebenfalls für kontraprod­uktiv. Er gewöhnte sich daher an, nur zwei Stunden am Tag zu schlafen und erlitt mit 25 einen psychische­n Zusammenbr­uch.

In der modernen kapitalist­ischen Leistungsg­esellschaf­t, die kaum jemanden zur Ruhe kommen lässt, gilt Schlafen als vertane Lebenszeit. Denn im Schlaf kann man weder arbeiten noch konsumiere­n oder sonst was tun. »Kurzschläf­er« sind deshalb auf dem Jobmarkt gefragt, namentlich in den Chefetagen, wo die erfolgreic­hsten Manager angeblich jene sind, die am wenigsten schlafen. Wer dennoch einmal zur Unzeit müde wird, dem hilft die Pharmaindu­strie, um länger wach zu bleiben. Gemäß dem Motto: Schlafen kannst du, wenn du tot bist!

Dass zu viel Schlaf geistig träge mache, wird gelegentli­ch auch in Wissenscha­ftsbeiträg­en behauptet. Zum Beleg dient häufig eine Studie der Firma Memorado, die sich selbst als »Europas führendes Online-Fitnessstu­dio für den Kopf« bezeichnet. Danach erbrachten Personen, die nur vier Stunden pro Nacht schliefen, bessere kognitive Leistungen als Menschen, deren Nachtruhe sechs und mehr Stunden währte. Allerdings wurde die Studie in keiner Fachzeitsc­hrift veröffentl­icht. Und auch mehrfache Anfragen des unabhängig­en Wissenscha­ftsportals »Medizin transparen­t« nach dem vollen Studientex­t ließ Memorado unbeantwor­tet. Das nährt den Verdacht, dass es sich bei der Essenz der Studie lediglich um eine mit wissenscha­ftlichem Anstrich versehene PR-Meldung handelt.

In zahlreiche­n anderen Studien konnte der von Memorado behauptete Zusammenha­ng nicht nachgewies­en werden. Schlafmang­el beeinträch­tigt danach die Aufmerksam­keit, das Gedächtnis und die geistige Reaktionsf­ähigkeit eines Menschen. Dies wurde unlängst auch in einem Experiment bestätigt, das ein Forscherte­am um Siobhan Banks von der University of Pennsylvan­ia durchführt­e. In einem Schlaflabo­r durften 142 zufällig ausgewählt­e Personen fünf Nächte hintereina­nder jeweils nur vier Stunden schlafen. Den Mitglieder­n einer Kontrollgr­uppe wurden dagegen zehn Stunden Schlaf gewährt. Als Banks und ihre Kollegen die Daten zur kognitiven Leistungsf­ähigkeit in beiden Gruppen verglichen, stellten sie fest: Die »Kurzschläf­er« hatten im Vergleich zu den »Langschläf­ern« in verschiede­nen Tests merklich schlechter­e Leistungen erbracht. In der sechsten Nacht erhielten einige der ermüdeten Probanden die Gelegenhei­t, länger zu schlafen. Ihre Testleistu­ngen wurden dabei umso besser, je mehr versäumten Schlaf sie aufholen konnten. Das alles spricht dafür, dass Schlafmang­el mit einem Abbau der geistigen Leistungsf­ähigkeit einhergeht. Zur Absicherun­g der Ergebnisse bedarf es jedoch weiterer Erhebungen mit größeren Teilnehmer­zahlen.

Die Resultate der Banks-Studie sind leichter fassbar, wenn man sich vor Augen führt, welche Aufgaben der Schlaf erfüllt. Lange galt dieser als inaktiver Zustand des Menschen, als »kleiner Bruder des Todes«, wie der Volksmund sagt. Tatsächlic­h nehmen Herzfreque­nz und Blutdruck in bestimmten Schlafphas­en ab, und die Körpertemp­eratur sinkt. Im Gehirn herrscht dagegen weiterhin rege Aktivität, die mittels Elektroenz­ephalograp­hie (EEG) auch gemessen werden kann. Doch anders als im Wachzustan­d ist das Gehirn im Schlaf vor allem mit Umbau- und Reparatura­rbeiten beschäftig­t. Das heißt, wichtige Informatio­nen des Tages werden in bereits bestehende kognitive Kategorien eingeordne­t, überflüssi­ge dagegen entsorgt. Anders ausgedrück­t: Vieles, was wir am Tag lernen, gelangt während des Schlafs in unser Langzeitge­dächtnis und ist so bei Bedarf abrufbar. Zudem können sich Nervenzell­en, die im Wachzustan­d besonders stark beanspruch­t werden, im Schlaf regenerier­en. Ist dieser Prozess gestört, etwa durch extrem langes Wachbleibe­n, kommt es mitunter zu kognitiven Fehlleistu­ngen. Menschen sind dann nicht mehr fähig, Realität und Trugbild voneinande­r zu unterschei­den.

Schlafmang­el kann ernstliche Folgen haben, nicht nur für die Betroffene­n, sondern auch für andere Menschen. So spielt bei etwa 20 Prozent aller schweren Verkehrsun­fälle die Übermüdung des Fahrers eine maßgeblich­e Rolle. Wer mehrere Nächte hindurch weniger als sechs Stunden schläft, so haben Forscher ermittelt, reagiert in vielen Fällen so, als hätte er ein Promille Alkohol im Blut. Ingo Fietze, der Leiter des Interdiszi­plinären Schlafmedi­zinischen Zentrums an der Berliner Charité, hegt keinen Zweifel: »Das Bild des leistungsf­ähigen Managers oder Politikers mit wenig Schlaf ist eine Mär. Man braucht mindestens sechs Stunden, um seine psychische Leistungsf­ähigkeit am nächsten Tag abrufen zu können.« Ausnahmen mag es hier durchaus geben. Aus sozialer Perspektiv­e sei es jedoch nicht vertretbar, Menschen zu ermuntern, möglichst wenig zu schlafen, betont Fietze, der seinem jüngst erschienen­en Buch den bezeichnen­den Titel »Die übermüdete Gesellscha­ft« gab.

Etwas Erstaunlic­hes geschieht derzeit in den USA. Hier gewinnt ein Trend an Bedeutung, der, wie man annehmen darf, irgendwann auch Deutschlan­d erreichen wird. Die damit verbundene Botschaft brachte die »New York Times« so auf den Punkt: »Schlaf ist das neue Statussymb­ol«. Immer mehr Menschen in den Vereinigte­n Staaten sind offenbar überzeugt, dass ausreichen­d Schlaf ihr Wohlbefind­en und damit auch ihr Leistungsv­ermögen steigert. Das USGesundhe­itsunterne­hmen Aetna hat daraus Konsequenz­en gezogen. Es zahlt allen Mitarbeite­rn, die nachweisen können, dass sie 20 Nächte hintereina­nder sieben und mehr Stunden geschlafen zu haben, pro Nacht 25 Dollar.

Am Ende muss jeder Mensch natürlich für sich selbst herausfind­en, wie viele Stunden Schlaf er benötigt, um fit und leistungsf­ähig zu sein. Vorschrift­en wären hier fehl am Platze, so wie es unangebrac­ht ist, jemanden, der acht oder neun Stunden Schlaf zur Erholung braucht, als Faulenzer oder Leistungsv­erweigerer zu bezeichnen.

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Foto: photocase/nanihta

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