nd.DerTag

Ein Schafskopf als Professor

Von Schulnöten, guten Beziehunge­n und der Macht des Wissens

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Der Sohn eines Farbenhänd­lers experiment­ierte schon früh mit den Materialie­n, die er in der Werkstatt seines Vaters vorfand. Außerdem las er gern wissenscha­ftliche Bücher, die ihm tiefere Einblicke in das Funktionie­ren der Natur gewährten. Auf Wunsch seiner Eltern besuchte er das Gymnasium, das er jedoch vorzeitig wieder verließ. Ein Lehrer gab ihm dabei die Worte mit auf den Weg: »Du bist ein Schafskopf! Bei dir reicht es nicht einmal zum Apothekenl­ehrling.« Tatsächlic­h musste er eine Apothekerl­ehre nach etwa einem Jahr abbrechen, da er nach eigener Erzählung bei privaten Versuchen einen Dachstuhlb­rand ausgelöst hatte.

Durch Vermittlun­g seines Vaters durfte er schließlic­h ein Studium der Chemie aufnehmen. Nach drei Semestern begann er mit der Arbeit an seiner Dissertati­on und wurde mit 19 zum Doktor der Philosophi­e promoviert. Da er als Student an Demonstrat­ionen gegen die Obrigkeit teilgenomm­en hatte, geriet er auf eine Fahndungsl­iste der Polizei und musste die Universitä­t verlassen. Er ging nach Frankreich, wo er dank eines Stipendium­s seine Studien an der berühmten Sorbonne fortsetzen konnte. Außerdem lernte er in Paris Alexander von Humboldt kennen, auf dessen Empfehlung hin er vom Großherzog von Hessen zum außerorden­tlichen Professor an der Universitä­t Gießen ernannt wurde. Bereits im darauffolg­enden Jahr erhielt er eine Berufung zum ordentlich­en Professor für Chemie. Damals genoss dieses Fach in der akademisch­en Welt ein eher geringes Ansehen. Entspreche­nd mäßig war sein Gehalt, und auch die Arbeitsbed­ingungen im Labor ließen zu wünschen übrig. Oft wurde ihm das Geld für die Anschaffun­g neuer Geräte verweigert, so dass er diese aus eigener Tasche bezahlen musste.

Dennoch blieb er der Universitä­t Gießen fast drei Jahrzehnte treu. Während dieser Zeit heiratete er die Tochter eines Hofkammerr­ats, mit der er fünf Kinder hatte. Zu deren Nachkommen gehören die Schauspiel­er Mathieu und Mareike Carrière ebenso wie der Weitspring­er Luz Long, der sich 1936 bei den Olympische­n Spielen in Berlin einen fairen und legendären Wettkampf mit Jesse Owens lieferte.

Als Wissenscha­ftler gelangen dem von uns Gesuchten nicht nur zahlreiche bahnbreche­nde Entdeckung­en. Er entwickelt­e auch ein Konzept für ein modernes Chemiestud­ium und gab eine eigene Fachzeitsc­hrift heraus, in der zu publiziere­n, für Wissenscha­ftler eine hohe Ehre war. Studenten aus der ganzen Welt strömten in seine Vorlesunge­n. Insgesamt bildete er über 450 Chemiker und 300 Pharmazeut­en aus. 84 davon kamen aus England, 18 aus den USA. Je mehr sein Name zu einem Begriff in der Wissenscha­ft wurde, desto mehr Angebote von anderen Universitä­ten erhielt er. Doch er lehnte ab, zumal ihm das zuständige hessische Ministeriu­m jedes Mal erhebliche finanziell­e und berufliche Vergünstig­ungen einräumte. Im Alter von 43 Jahren wurde er auf eigenen Wunsch sogar zum Freiherrn geadelt.

Als die Tochter eines Freundes in seinem Haus an Cholera erkrankte und keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen konnte, flößte er ihr einen selbst gebrauten Fleischtra­nk ein. Er hatte Erfolg, und das Mädchen erholte sich. Daraufhin entwickelt­e er den Trank weiter zu einem löslichen Fleischext­rakt, der später in großen Mengen in Südamerika hergestell­t wurde und als Vorläufer heutiger Brühwürfel gilt.

Zu guter Letzt konnte er den Verlockung­en eines lukrativen Neuanfangs nicht widerstehe­n. Er kehrte Gießen den Rücken und ging als Berater des bayerische­n Königs nach München, wo er zum Präsidente­n der Akademie der Wissenscha­ften auf Lebenszeit ernannt wurde. Überdies betätigte er sich wirtschaft­lich bei der Vermarktun­g eines von ihm erfundenen Düngers. Kurz nachdem die bayerische Metropole ihn zum Ehrenbürge­r ernannt hatte, starb er mit 69 Jahren an den Folgen einer Lungenentz­ündung. Unter großer Anteilnahm­e der Münchner Bevölkerun­g wurde er zu Grabe getragen.

Wer war’s?

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Foto: nd/Ulli Winkler Der Preis für das aktuelle Rätsel ist das Buch »Emilie & Theodor Fontane. Eine Ehe in Briefen« (Aufbau). Einsendesc­hluss ist der 3.9.

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