Neurose und Orgasmus
Wilhelm Reich, Freudomarxismus und die »sexuelle Revolution« von 1968.
Er hat 1968 nicht erlebt. Elf Jahre zuvor starb Wilhelm Reich (1897-1957) in einer Haftanstalt in Pennsylvania an Herzversagen. Verurteilt worden war er wegen Missachtung der Gerichtsbarkeit: Er hatte sich gegen eine richterliche Anweisung geweigert, vom »Orgonakkumulator« Abstand zu nehmen, einer von ihm erfundenen, mit Blech ausgekleideten Holzkiste, die eine »orgonische Energie« sammeln und heilsam auf den Körper richten sollte. Das Versprechen, so ziemlich alle Leiden von der Neurose bis zum Krebs durch eine »primordiale kosmische Energie« zu heilen, hatte nicht zu Unrecht die US-amerikanische Bundesbehörde für Lebensmittel- und Medikamentensicherheit (FDA) alarmiert.
Doch die Konsequenz, mit der Reich nachgestellt wurde, verweist auch auf den Kontext der McCartyÄra. Und tatsächlich war Reich von 1927 bis 1933 Mitglied zuerst der KP Österreichs und dann der KPD. Dass er von dieser längst ausgeschlossen worden war, interessierte in den USA der 1950er Jahre so wenig wie zuvor wie im Nazistaat, wo man seine Schriften verbrannte. So musste sich Reich Mitte der 1950er Jahre, als die FDA auch die im Selbstverlag herausgebrachte Begleitliteratur beschlagnahmte und vernichtete, wie in einer Endlosschleife fühlen; womöglich wirkte diese Isolation an den Wahnvorstellungen mit, mit denen er zunehmend zu kämpfen hatte.
Grob lässt sich Reichs Leben anhand der beiden Bücherverbrennungen periodisieren: Der jüngere, europäische Reich wollte durch gesellschaftliche Umwälzung aus der Welt schaffen, was der spätere, amerikanische, durch seine esoterisch-energetische »Alternativmedizin« zu heilen versprach: Nämlich individuell wie gesellschaftlich wirkende Neurosen und Deformationen, die durch eine sozial sanktionierte »Unterdrückung« des »Sexualtriebs« hervorgerufen würden – das Wort »Orgon« setzt sich aus »Orgasmus« und »Organismus« zusammen. Dass derlei den stalinisierten Kommunisten um 1930 so suspekt war wie den US-Antikommunisten von 1950, wundert wenig – und auch nicht, dass Reich in der revoltierenden Gegenkultur von 1968 interessant wurde.
Hierbei scheint in den USA jener esoterisch-therapeutische Lebensabschnitt wichtiger gewesen zu sein. In der wimmelt es nur so von Orgonakkumulatoren. Fast alle (männlichen) Literaturgrößen dieser Szenerie schworen auf die telefonzellenartige Befreiungsmaschine, die für Konservative Pandoras Kiste war. Die Liste reicht von Jack Kerouac und Allen Ginsberg über William S. Burroughs und JD Salinger bis Paul Goodman, Saul Bellow, Norman Mailer und Dwight Macdonald. 1972 karikierte Woody Allen den Apparat in »The Sleepers« als »Orgasmatron«.
Insbesondere hierzulande ging es hingegen eher um die älteren, sozialtheoretischen Schriften, vor allem um die 1936 entstandene und 1966 wieder aufgelegte Schrift mit dem paradigmatischen Titel »Die sexuelle Revolution« und die »Massenpsychologie des Faschismus« von 1933, die 1971 neu erschien, nachdem sie schon in Raubdrucken kursierte. Im Konflikt mit der Kriegsgeneration machte Reich ein Angebot: Er erkannte die damals so oft beklagte konservativ-miefige, lustfeindliche, auf die Privatheit der Kleinfamilie abstellende Mainstreamkultur der 1950er als originär faschistisch und begründete so alternative Lebensführungs-, Erziehungs- und Partnerschaftsmodelle. »Lest Reich und handelt danach« stand 1968 an der Frankfurter Uni.
Reich, 1920 in Wien in die Kreise um Freud geraten, versuchte eine Verbindung von Psychoanalyse und Marxismus. Freud selbst, am Marxismus kaum interessiert, erkennt zwar durchaus soziale Sexualkonventionen als pathogen, wenn er etwa 1908 männliche Doppelmoral kritisiert und Frauen zur »ehelichen Untreue« rät: Monogamie sei kaum erfüllend, sie führe – um so schneller, »je strenger eine Frau erzogen ist« – »Orgiastische« Lebensenergie durch Sitzen im Blechkasten: Reichs »Orgonakkumulator« im Einsatz Freie Liebe? Spontane Hippie-Hochzeit auf dem Watchfield-Festival bei Oxford, 1975
zur »Neurose«, denn nichts schütze »ihre Tugend so sicher wie die Krankheit«. Doch ging es Freud um Therapie statt Reform, erst spät dachte er grundsätzlicher über Gesellschaft nach. So beschrieb er 1930 in »Das Unbehagen in der Kultur« eben diese als System zur Einhegung der Triebe. Und wenn »die Kulturentwicklung so weitgehende Ähnlichkeiten mit der des Einzelnen hat (...), soll man nicht zur Diagnose berechtigt sein, dass manche Kulturen (...) ›neurotisch‹ geworden sind?«
Hier setzt Reichs »Massenpsychologie« an. Die mit der Kindeserziehung einsetzende Unterdrückung der Sexualität produziere ein autoritäres, angstvolles, gehemmtes Subjekt, das »gegen sein materielles Interesse handelt, fühlt und denkt«. Keimzelle sei die patriarchalische »Zwangsfamilie« des (Klein-)Bürgertums, gehe doch »Sexualunterdrückung« von »wirtschaftlichen Interessen des Erbrechts und der Heirat aus« und treffe daher »am schärfsten (...) die weiblichen Angehörigen der herrschenden Schicht«. Doch lasse »Verbürgerlichung« auch Arbeiter dem Faschismus zuneigen: »Das kleinbürgerliche Schlafzimmer, das der Prolet sich anschafft, sobald er die Möglichkeit dazu hat (...), die dazugehörige Unterdrückung der Frau, auch wenn er Kommunist ist, die ›anständige‹ Kleidung am Sonntag, steife
Tanzformen« hätten »bei chronischer Wirkung (...) mehr reaktionären Einfluss« als alle Propaganda.
Dieser Satz ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Erstens klingt eine weitreichende sozialtheoretische Konzeption an, die gerade in jüngeren Jahren wieder viel Resonanz erfährt – dass nämlich »Ideologie« nicht primär im »Bewusstsein« wirke, sondern körperlich-sinnlich, als Geste, als Haltung, als Bewegung zu verstehen ist. Und zweitens enthält er im Negativen das ganze Programm der Gegenkultur von 1968.
Reich hatte indes eher die Restauration in der UdSSR im Blick, wo unter Stalin sexualpolitische Initiativen wie das Kratzen an der Kleinfamilie durch Alexandra Kollontai endeten. Es sei ein »schwerer Fehler« gewesen, dass »man, ›um an die Massen heranzukommen‹, Feste veranstaltete, die der reaktionäre Faschismus weit besser traf«. Dies sei der Kern einer »totalitär-diktatorischen Entartung der Sowjetdemokratie«.
Dass die Kommunisten ihn dann hinauswarfen, ist nicht erstaunlich. Dass er aber zugleich auch aus den Psychoanalytischen Vereinigungen flog, lag wohl erstens an deren Versuch, als rein medizinische Disziplin im Faschismus fortwirken zu können. Zweitens verweist sein Ausschluss auch auf Differenzen zwischen seinem Freudomarxismus und Freud: So war dieser, obwohl er mit Reich in der Analyse der Sexualunterdrückung übereinstimmte, gegen eine totale »Befreiung« von Sex – auch, weil er dessen »Sublimierung« Kunst und Wissenschaft vorantreiben sah. Für Reich hingegen war der »Sexualtrieb« selbst jene Kraft der kulturellen Hebung der Menschheit.
An all dem kann man im Nachhinein viel kritisieren. Obwohl Reich – wie Freud – Homosexualität entkriminalisieren wollte (und Stalins Verbotsgesetz von 1936 scharf kritisierte), sah er sie doch als missglückte sexuelle Sozialisation. »Natürlich« und befreiend fand er nur den heterosexuellen, genitalen Orgasmus – was wie das Konzept des »Triebs« überhaupt fragwürdig ist, weil dabei eine überhistorisch und jenseits sozialer Beziehungen bestehende »Natur des Menschen« vorausgesetzt wird.
Die akademische Kritik an Reich ist denn auch sehr umfänglich. Herbert Marcuse wies die Fixierung auf den genitalen Orgasmus zurück. Und die – widerstreitenden – Theorien Theodor W. Adornos, Michel Foucaults und auch Judith Butlers richteten sich gegen jene Annahme eines natürlichen Sexualtriebs. Vor allem Butler griff dabei auf wiederum Freuds These von der Erlerntheit der Heterosexualität zurück. Statt also »Natur« gegen »Gesellschaft« zu mobilisieren, wird aus heutigen Perspektiven das Konzept »Natur« kritisiert und die soziale Konstruktion von Geschlechtsidentitäten untersucht.
An der Praxis mancher Reich-Adepten von 1968 kritisierten Feministinnen, dass mit einem Ende des Monogamiegebots nicht automatisch das über Jahrhunderte geübte Machtgefälle zwischen Mann und Frau verschwinde; vielmehr könne »freie Liebe« sich zu einem Gruppendruck auswachsen, männlichen »Genossen« zur Verfügung zu stehen. Jene »antiautoritären« Kinderläden hingegen, in denen das Zulassen kindlicher Sexualität sich zuweilen am Rand des Missbrauchs durch Erwachsene bewegte, sind Reich nicht anzulasten – gegen die »Verführung Pueriler« hat er sich klar positioniert.
Im Rückblick erweist sich wohl auch die reichianische Faschismusanalyse als ungenau: Die Historikerin Dagmar Herzog hat vor einigen Jahren gezeigt, dass Reichs vor dem Faschismus entwickelte These nicht stimmt, nach der dieser der revolutionären Sexpolitik nie etwas anderes entgegenstellen könne als »restlose Unterdrückung und Verneinung des Geschlechtslebens«. Bei allem moralischen Getöse war das Hitlerreich sexualpolitisch doppelgesichtig. Er stimulierte etwa im Rahmen des »Lebensborns« durchaus auch lustvollen Heterosex zwischen ideologisch korrekten Arierinnen und Ariern. Auch wenn das vor allem »reinrassigem« Nachwuchs dienen sollte, stimmt die um 1968 populäre These vom Faschismus als Herrschaft lustfeindlicher Spießer nicht ganz. Die sprichwörtliche kleinbürgerlich-kleinfamiliäre Verdruckstheit, gegen die sich die »sexuelle Revolution« richtete, war tatsächlich weniger Ausdruck und des des Faschismus als eines Nachkriegs-Postfaschismus, der das in vielerlei Hinsicht moralisch entgrenzte Hitlerreich zu verdrängen und vergessen trachtete.
Doch sollte man bei aller Kritik an Reichs Theorien und allem Kopfschütteln über sein späteres Abdriften in obskure Esoterik – er wollte sogar Regen machen – den Stab über ihn nicht vorschnell brechen. Früh stritt er mit Leidenschaft gegen die Kriminalisierung von »Perversionen«. Er anerkannte selbstbestimmte weibliche Lust und entkoppelte Sex weitgehend von Fortpflanzung. Bis heute ist all das ja nicht selbstverständlich.