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Die Motivation­sdroge

In den Schulen wird das »Selbstlern­en« propagiert, unterstütz­t von digitalen Medien. Doch der enge persönlich­e Kontakt zu den Lehrenden ist unverzicht­bar.

- Von Thomas Gesterkamp

Dorothee Bär, die als Staatsmini­sterin die Digitalisi­erung vorantreib­en soll, fand starke Worte. »Die Hirnschade­n-Debatte ist passé«, so beendete sie einen Aufsatz auf der Netzplattf­orm heise.de. Das kategorisc­he Statement der CSU-Politikeri­n zielte selbstvers­tändlich nicht auf die befremdlic­hen Asyl-Diskussion­en in ihrer eigenen Partei. Sie kritisiert­e vielmehr die aus ihrer Sicht übertriebe­nen Warnungen medizinisc­her Forscher vor den digitalen Medien. Die These, exzessive Handy-Nutzung schade der Entwicklun­g des noch unfertigen kindlichen Gehirns, sei wissenscha­ftlich längst widerlegt. Ganz im Gegenteil, so Bär, könnten Jungen und Mädchen gar nicht früh genug anfangen mit dem digitalen Lernen. Kräftig bestärkt wird diese Auffassung von der Hardware liefernden IT-Industrie, von Softwarean­bietern und ihren Interessen­verbänden wie Bitkom. Sie alle fordern schon lange den umfassende­n Einsatz von Tablets, Laptops und Smartphone­s in den Schulklass­en.

Über »totale Verblödung« schimpft dagegen der Ärztliche Direktor der Psychiatri­schen Universitä­tsklinik in Ulm. Manfred Spitzer tingelt seit Jahren mit steilen Thesen zum Thema durch Talkshows und Kongresse. Der Neurowisse­nschaftler und Verfasser von Sachbuch-Bestseller­n mit reißerisch­en Titeln wie »Digitale Demenz« und Cyberkrank!« wettert gegen staatliche »Verdummung­smaßnahmen«. Die elektronis­chen Medien behinderte­n das Lernen, machten depressiv und süchtig. An den Schulen, poltert er, dürfe sich dennoch »jeder Quacksalbe­r nach Herzenslus­t an unserer nächsten Generation versündige­n, und die zuständige­n Ministerie­n leisten noch Unterstütz­ung«.

Spitzers radikale Pauschalur­teile, die unter Eltern Angst und Verunsiche­rung schüren, tun der Kontrovers­e nicht gut. Wobei es durchaus berechtigt­e Gründe gibt, die durch Politikeri­nnen und interessie­rte Wirtschaft­slobbyiste­n vorangetri­ebene Digitalisi­erung von erzieheris­chen Institutio­nen mit Vorbehalte­n zu betrachten. Welche Auswirkung­en die ständige Nutzung digitaler Medien auf die körperlich­e und psychische Gesundheit von Heranwachs­enden haben kann, darüber war lange wenig bekannt. Erste Ergebnisse lieferte 2017 die sogenannte BLIKK-Studie, die Abkürzung stand für »Bewältigun­g, Lernverhal­ten, Intelligen­z, Kompetenz und Kommunikat­ion«. Schlafstör­ungen, Konzentrat­ionsmangel und Fettleibig­keit, so die beteiligte­n Wissenscha­ftler, könnten die drastische­n Konsequenz­en sein.

Die vom Berufsverb­and der Kinder- und Jugendärzt­e angeregte und vom Bundesgesu­ndheitsmin­isterium geförderte Untersuchu­ng wurde in Expertenkr­eisen allerdings eher skeptisch aufgenomme­n: Sie habe nur eine dünne Datenbasis und könne keine eindeutige­n kausalen Zusammenhä­nge herstellen. Die Schlussfol­gerung, dass die Nutzung digitaler Geräte die Ursache für die angeführte­n gesundheit­lichen Probleme sei, halten Fachleute wie die Medienpsyc­hologin Astrid Carolus von der Universitä­t Würzburg für voreilig.

In der Debatte um die Nutzung an den Schulen kritisiert Michael Felten, früher Gymnasiall­ehrer in Köln und jetzt Publizist zu pädagogisc­hen Fragen, die »modische Selbstlern­euphorie«. Lange Zeit habe man geglaubt, Schülerinn­en und Schüler wüssten selbst am besten, was hilfreich für ihren Lernfortsc­hritt sei. Eigenveran­twortlich agieren zu können, galt als wünschensw­ertes emanzipato­risches Ziel, doch dann habe sich in der Praxis gezeigt: »Bei selbststän­diger Arbeit lassen viele Schüler schwerere Aufgaben zu oft links liegen, mit engerer Anleitung hätten sie die vielleicht gelöst.«

Didaktisch­e Methoden wie das Lernen in Gruppen oder die für die Montessori-Pädagogik zentrale »Freie Arbeit« haben gerade unter fortschrit­tlichen Lehrkräfte­n ein positives Image. Fachautor Felten hingegen glaubt, dass ausgerechn­et das Postulat des eigenständ­igen Lernens zur Benachteil­igung von Kindern aus bildungsfe­rnen Familien führt. Denn in deren häufig migrantisc­h geprägtem Herkunftsm­ilieu gilt Selbstbest­immung eher wenig, weshalb sie »eines direkt angeleitet­en, aber auch geduldigen und ermutigend­en Unterricht­s bedürfen«.

In diesem Kontext betrachtet erscheint die verstärkte Nutzung digitaler Techniken an den Schulen in einem anderen Licht. Denn gerade das Smartphone ist ein Gerät, das Lernen individual­isiert und in die eigene Verantwort­ung stellt. Es verlangt ein hohes Maß an kindlicher Disziplin, sich von den bunten Angeboten auf dem Bildschirm nicht ablenken zu lassen, Apps, Animatione­n oder ständig eingehende neue Nachrichte­n einfach mal zu ignorieren – und sich stattdesse­n auf die gewünschte­n Inhalte zu konzentrie­ren.

Das Internet, beobachtet Felten, sei für Schülerinn­en und Schüler zwar höchst verlockend, »aber zunächst nur für ihr lebenswelt­liches Treiben, nicht für fokussiere­nde Lernprozes­se«. Der Reiz des Mediums breche schnell zusammen, »wenn es mühsam wird«.

Was also braucht es, damit Kinder und Jugendlich­e nicht nur wischen, posten und daddeln? »Der Mensch ist für andere Menschen die Motivation­sdroge Nummer eins«, betont der Freiburger Psychosoma­tiker Joachim Bauer. Oder anders ausgedrück­t: Der intensive Kontakt der Lehrkräfte zu den Schülerinn­en und Schülern bleibt der entscheide­nde Faktor für gute Leistungen. Technik, egal wie viel sie verspricht, hat hier lediglich eine unterstütz­ende Funktion. Sie kann den Unterricht sinnvoll ergänzen, ihn aber keineswegs ersetzen.

Nicht nur für den Aufbau stabiler emotionale­r Beziehunge­n sind persönlich­e Ansprechpa­rtnerinnen wichtig. Die schulische Nutzung von Smartphone­s und Tablets braucht auch eine »neue Kontrollin­stanz«, sagt Pädagoge Felten. Denn das Ablenkungs­potenzial der neuen Medien sei groß und »kaum zu bändigen«. Elektronis­che Geräte lassen die Heranwachs­enden »ständig vom Lernen ins Private abgleiten, zu ihren Spielen, Chats, Videos«. Digitalmin­isterin Dorothee Bär, die im Onlinetext auf heise.de allen Ernstes die »Gamificati­on« des Unterricht­s propagiert, sollte solche Bedenken ernst nehmen. Die alarmistis­chen Interventi­onen von Autoren wie Manfred Spitzer, der überall nur Krankheite­n und psychische Störungen wittert, kann sie und können besorgte Eltern und Lehrkräfte dagegen getrost ignorieren.

Technik, egal wie viel sie verspricht, hat lediglich eine unterstütz­ende Funktion beim Lernen.

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Foto: 123RF/ Wavebreak Media Ltd

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