Die Motivationsdroge
In den Schulen wird das »Selbstlernen« propagiert, unterstützt von digitalen Medien. Doch der enge persönliche Kontakt zu den Lehrenden ist unverzichtbar.
Dorothee Bär, die als Staatsministerin die Digitalisierung vorantreiben soll, fand starke Worte. »Die Hirnschaden-Debatte ist passé«, so beendete sie einen Aufsatz auf der Netzplattform heise.de. Das kategorische Statement der CSU-Politikerin zielte selbstverständlich nicht auf die befremdlichen Asyl-Diskussionen in ihrer eigenen Partei. Sie kritisierte vielmehr die aus ihrer Sicht übertriebenen Warnungen medizinischer Forscher vor den digitalen Medien. Die These, exzessive Handy-Nutzung schade der Entwicklung des noch unfertigen kindlichen Gehirns, sei wissenschaftlich längst widerlegt. Ganz im Gegenteil, so Bär, könnten Jungen und Mädchen gar nicht früh genug anfangen mit dem digitalen Lernen. Kräftig bestärkt wird diese Auffassung von der Hardware liefernden IT-Industrie, von Softwareanbietern und ihren Interessenverbänden wie Bitkom. Sie alle fordern schon lange den umfassenden Einsatz von Tablets, Laptops und Smartphones in den Schulklassen.
Über »totale Verblödung« schimpft dagegen der Ärztliche Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm. Manfred Spitzer tingelt seit Jahren mit steilen Thesen zum Thema durch Talkshows und Kongresse. Der Neurowissenschaftler und Verfasser von Sachbuch-Bestsellern mit reißerischen Titeln wie »Digitale Demenz« und Cyberkrank!« wettert gegen staatliche »Verdummungsmaßnahmen«. Die elektronischen Medien behinderten das Lernen, machten depressiv und süchtig. An den Schulen, poltert er, dürfe sich dennoch »jeder Quacksalber nach Herzenslust an unserer nächsten Generation versündigen, und die zuständigen Ministerien leisten noch Unterstützung«.
Spitzers radikale Pauschalurteile, die unter Eltern Angst und Verunsicherung schüren, tun der Kontroverse nicht gut. Wobei es durchaus berechtigte Gründe gibt, die durch Politikerinnen und interessierte Wirtschaftslobbyisten vorangetriebene Digitalisierung von erzieherischen Institutionen mit Vorbehalten zu betrachten. Welche Auswirkungen die ständige Nutzung digitaler Medien auf die körperliche und psychische Gesundheit von Heranwachsenden haben kann, darüber war lange wenig bekannt. Erste Ergebnisse lieferte 2017 die sogenannte BLIKK-Studie, die Abkürzung stand für »Bewältigung, Lernverhalten, Intelligenz, Kompetenz und Kommunikation«. Schlafstörungen, Konzentrationsmangel und Fettleibigkeit, so die beteiligten Wissenschaftler, könnten die drastischen Konsequenzen sein.
Die vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte angeregte und vom Bundesgesundheitsministerium geförderte Untersuchung wurde in Expertenkreisen allerdings eher skeptisch aufgenommen: Sie habe nur eine dünne Datenbasis und könne keine eindeutigen kausalen Zusammenhänge herstellen. Die Schlussfolgerung, dass die Nutzung digitaler Geräte die Ursache für die angeführten gesundheitlichen Probleme sei, halten Fachleute wie die Medienpsychologin Astrid Carolus von der Universität Würzburg für voreilig.
In der Debatte um die Nutzung an den Schulen kritisiert Michael Felten, früher Gymnasiallehrer in Köln und jetzt Publizist zu pädagogischen Fragen, die »modische Selbstlerneuphorie«. Lange Zeit habe man geglaubt, Schülerinnen und Schüler wüssten selbst am besten, was hilfreich für ihren Lernfortschritt sei. Eigenverantwortlich agieren zu können, galt als wünschenswertes emanzipatorisches Ziel, doch dann habe sich in der Praxis gezeigt: »Bei selbstständiger Arbeit lassen viele Schüler schwerere Aufgaben zu oft links liegen, mit engerer Anleitung hätten sie die vielleicht gelöst.«
Didaktische Methoden wie das Lernen in Gruppen oder die für die Montessori-Pädagogik zentrale »Freie Arbeit« haben gerade unter fortschrittlichen Lehrkräften ein positives Image. Fachautor Felten hingegen glaubt, dass ausgerechnet das Postulat des eigenständigen Lernens zur Benachteiligung von Kindern aus bildungsfernen Familien führt. Denn in deren häufig migrantisch geprägtem Herkunftsmilieu gilt Selbstbestimmung eher wenig, weshalb sie »eines direkt angeleiteten, aber auch geduldigen und ermutigenden Unterrichts bedürfen«.
In diesem Kontext betrachtet erscheint die verstärkte Nutzung digitaler Techniken an den Schulen in einem anderen Licht. Denn gerade das Smartphone ist ein Gerät, das Lernen individualisiert und in die eigene Verantwortung stellt. Es verlangt ein hohes Maß an kindlicher Disziplin, sich von den bunten Angeboten auf dem Bildschirm nicht ablenken zu lassen, Apps, Animationen oder ständig eingehende neue Nachrichten einfach mal zu ignorieren – und sich stattdessen auf die gewünschten Inhalte zu konzentrieren.
Das Internet, beobachtet Felten, sei für Schülerinnen und Schüler zwar höchst verlockend, »aber zunächst nur für ihr lebensweltliches Treiben, nicht für fokussierende Lernprozesse«. Der Reiz des Mediums breche schnell zusammen, »wenn es mühsam wird«.
Was also braucht es, damit Kinder und Jugendliche nicht nur wischen, posten und daddeln? »Der Mensch ist für andere Menschen die Motivationsdroge Nummer eins«, betont der Freiburger Psychosomatiker Joachim Bauer. Oder anders ausgedrückt: Der intensive Kontakt der Lehrkräfte zu den Schülerinnen und Schülern bleibt der entscheidende Faktor für gute Leistungen. Technik, egal wie viel sie verspricht, hat hier lediglich eine unterstützende Funktion. Sie kann den Unterricht sinnvoll ergänzen, ihn aber keineswegs ersetzen.
Nicht nur für den Aufbau stabiler emotionaler Beziehungen sind persönliche Ansprechpartnerinnen wichtig. Die schulische Nutzung von Smartphones und Tablets braucht auch eine »neue Kontrollinstanz«, sagt Pädagoge Felten. Denn das Ablenkungspotenzial der neuen Medien sei groß und »kaum zu bändigen«. Elektronische Geräte lassen die Heranwachsenden »ständig vom Lernen ins Private abgleiten, zu ihren Spielen, Chats, Videos«. Digitalministerin Dorothee Bär, die im Onlinetext auf heise.de allen Ernstes die »Gamification« des Unterrichts propagiert, sollte solche Bedenken ernst nehmen. Die alarmistischen Interventionen von Autoren wie Manfred Spitzer, der überall nur Krankheiten und psychische Störungen wittert, kann sie und können besorgte Eltern und Lehrkräfte dagegen getrost ignorieren.
Technik, egal wie viel sie verspricht, hat lediglich eine unterstützende Funktion beim Lernen.