Abschied vom Mythos des unberührten Urwalds
Schon vor 4500 Jahren beeinflussten Menschen nachhaltig Amazonien.
Die Ureinwohner Amazoniens waren nicht nur Jäger und Sammler. Schon vor wenigstens 4500 Jahren betrieben Amazonasbewohner nachhaltige Landwirtschaft und hinterließen ein bleibendes Erbe in der größten Regenwaldregion der Erde. Wie eine neue Studie der Universität Exeter zeigt, führten sie Nutzpflanzen in neue Gebiete ein, erhöhten die Zahl an Fruchtbäumen und nutzten Feuer zur Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit. Dies erklärt, warum Wälder nahe archäologischer Fundstätten im Amazonasbecken noch heute eine höhere Konzentration an essbaren Pflanzen aufweisen. Bei dem von den Ureinwohnern betriebenen sogenannten Stockwerkanbau wachsen unter hohen Bäumen – etwa Paranuss – kleinere Nutzpflanzen wie Banane oder Kakao und krautige Pflanzen wie Maniok. Diese Wirtschaftsform schont den Boden und die örtliche Artenvielfalt.
Ein Team um S. Yoshi Maezumi von der University of Exeter (Großbritannien) hat nun erstmals interdisziplinär die langfristige Landnutzung und das Feuermanagement im Amazonasgebiet untersucht. In ihrer Veröffentlichung im Fachblatt »Nature Plants« (DOI: 10.1038/s41477-018-0205-y) zeigen die Forscher, wie frühe präkolumbianische Kulturen den Regenwald intensiv nutzten, ohne ständig neue Flächen für die Landwirtschaft zu roden.
Das Forscherteam von Archäologen, Paläontologen, Botanikern und Ökologen untersuchte im Waldreservat »Floresta Nacional dos Tapajós« im Tal des Tapajó-Flusses bei Santarém im nordbrasilianischen Bundesstaat Pará Holzkohle, Pollen und Pflanzenreste von Böden in archäologischen Fundstätten und Seesedi- menten und die Abfolge von Vegetation und Feuernutzung. »Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Existenzgrundlage für die Entwicklung komplexer Gesellschaften im östlichen Amazonasgebiet vor etwa 4500 Jahren mit der Einführung einer polykulturellen Agroforstwirtschaft begann, die den Anbau mehrerer einjähriger Pflanzen bei fortschreitender Anreicherung von Fruchtbaumarten erlaubte.«
Die präkolumbianischen Amazonasbewohner bauten Ackerfrüchte wie Mais, Süßkartoffeln und Maniok nachhaltig an und erhöhten die Nahrungsproduktion durch systematische Bodenverbesserung. »Die Bewohner Amazoniens haben vor Tausenden von Jahren einen nährstoffreichen Boden, genannt Amazonian Dark Earths, entwickelt«, sagt Studienleiterin Yoshi Maezumi. »Sie betrieben eine Landwirtschaft, die auf einer kontinuierli- chen Nährstoffanreicherung und Wiederverwendung des Bodens basierte, anstatt ständig neue Anbauflächen zu roden. Dies war eine viel nachhaltigere Landwirtschaft als heute.«
Die Entwicklung der amazonischen Schwarzerde ermöglichte die Ausweitung des Anbaus von Mais und anderen Nutzpflanzen, die normalerweise nur in der Nähe nährstoffreicher See- und Flussufer angebaut wurden, auf den nährstoffarmen Bö- Siedlung von Ureinwohnern in Brasilien mit typischer Landwirtschaft im Stockwerkanbau den fernab der Überschwemmungsgebiete. Dies erhöhte die Menge an Nahrung für die zu dieser Zeit wachsende Amazonasbevölkerung.
Natürlich hätten die Menschen damals für den Anbau auch einige Bäume gefällt, doch sie hielten das geschlossene Blätterdach intakt. Der Wald wurde angereichert mit essbaren und anderen Nutzpflanzen. Maezumi: »Dies ist eine Nutzung des Landes, die sich sehr stark von der heutigen unterscheidet, wo große Flächen in Amazonien für den Anbau von Soja und Mais und für die Rinderzucht abgeholzt werden.«
In einer früheren Studie, die im Fachblatt »Nature Communications« (DOI: 10.1038/s41559-018-0602-7) veröffentlicht worden war, hatte eine Forschergruppe um Jonas Gregorio da Silva (ebenfalls University of Exeter) einen weiteren Beweis dafür geliefert, dass Amazonien schon vor der Eroberung durch Portugiesen und Spanier viel dichter besiedelt war als meist angenommen. Anhand von Satellitenaufnahmen entdeckten die Forscher 81 befestigte präkolumbianische Siedlungen am Oberlauf des Tapajós. Sie waren umgeben von ein bis drei Meter tiefen Gräben, hatten Plätze und Straßen. Ähnliche Fundstätten hatten Archäologen zuvor bereits weiter westlich in der Region des Bundesstaates Acre sowie am Oberlauf des Rio Xingu in Südostamazonien entdeckt. 24 der neuen Fundorte besuchten die Exeter-Forscher und kamen zu dem Schluss, dass es sich um archäologische Stätten handelt, die »repräsentativ für die gesamte Region« sind. Die Forscher entdeckten im Untersuchungsgebiet zudem Keramikfragmente, polierte Steinäxte und an Holzkohle reiche Böden, »Terra Preta«, die amazonische Schwarzerde, die auf eine an- dauernde landwirtschaftliche Nutzung hinweist.
»Seit Langem gibt es das Missverständnis, dass der Amazonas eine unberührte Landschaft ist, Heimat von verstreuten, nomadisch lebenden Gemeinschaften. Das ist nicht der Fall. Wir fanden heraus, dass einige Bevölkerungen abseits der großen Flüsse viel zahlreicher waren als bisher angenommen. Und diese Menschen hatten einen großen Einfluss auf ihre Umwelt, den wir bis heute feststellen können«, erläutert Studienleiter de Souza.
Beide Studien bestätigen damit indirekt auch die Forschungsarbeiten des Ethnobiologen Darrell Addison Posey, der bereits vor mehr als 30 Jahren den Mythos der unberührten Amazonaswälder in Frage stellte. Der 2001 verstorbene Wissenschaftler und Träger des Global-500-Umweltpreises der Vereinten Nationen forschte in den 1970er und 1980er Jahren im Tal des Xingu-Flusses in Südostamazonien. Er beschrieb, wie die Kayapó-Indianer nachhaltig ihre Umwelt am Xingu zur Erhöhung der Produktion von Nutzpflanzen und vielfältigen Nahrungsmitteln beeinflussten und kam zum Schluss: Amazonien ist keine Wildnis, sondern eine seit Jahrtausenden von indigenen Völkern nachhaltig geprägte Kulturlandschaft.
Posey stemmte sich damals zusammen mit den Kayapó-Häuptlingen Paiakan und Kube-I gegen den geplanten Bau eines Mega-Staudamms am Rio Xingu. Die damalige brasilianische Regierung José Sarney ließ daraufhin die Staudammpläne in der Schublade verschwinden. Die an Arten und Kultur reiche Xingu-Region blieb intakt. Erst die Regierung Lula da Silva holte die Pläne 2009 wieder heraus und baute den Mega-Staudamm Belo Monte am Xingu.