Im Schatten des Benbulben
Ein Besuch bei den keltischen Druiden und irischen Barden.
Die »Grüne Insel« ist nicht oft in den Schlagzeilen der Weltpresse. In den letzten Wochen jedoch vermehrt. Das irische Unternehmen Ryanair sieht sich mit Streiks in verschiedenen Ländern konfrontiert. Hunderte Flüge sind – ausgerechnet in der Urlaubssaison – ausgefallen, mehr als Hunderttausend Passagiere betroffen. Außer Piloten und Flugbegleiter in der Heimat der Fluggesellschaft legten auch deren Kollegen in Spanien, Portugal, Belgien, Italien (und nun wohl auch in Deutschland) die Arbeit nieder. Der notwendige Arbeitskampf sollte nicht von einem Besuch des Inselstaates im Atlantik – auf welchen Wegen auch immer – abhalten. Irland ist allemal eine Reise wert. Zumal für historisch und literarisch Interessierte.
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Wer vom Westen Irlands nach Donegal im Norden fährt, der nimmt ab der Kreisstadt Sligo die Nationalstraße 15, die wenige Meilen nördlich von Sligo das Dorf Drumcliff passiert. Ein Rundturm am Straßenrand und ein keltisches Hochkreuz auf dem Friedhof gegenüber sind die einzigen Zeugen eines Klosters, das 807 von den Wikingern geplündert und zerstört worden ist.
In Sichtweite von Drumcliff und im Schatten des gewaltigen, ewig grün schimmernden Tafelberges Benbulben liegt das Schlachtfeld von Coldruman, auf dem 561 um ein Buch gefochten wurde. 3000 keltische Krieger sind hier gestorben, weil zwei irische Geistliche sich um ein Copyright gestritten hatten – vielleicht der erste handfeste Streit in der Weltgeschichte um ein Urheberrecht: Der christliche Missionar Finian of Moville, später zum Heiligen erklärt, hatte aus Rom die Abschrift von Psalmen mitgebracht, die dem Prior des Klosters Drumcliff namens Columba so gut gefiel, dass er heimlich eine Kopie anfertigte. Als Finian davon erfuhr, forderte er die Aushändigung der Kopie, die ihm Columba jedoch verweigerte. Die Sache kam vors Gericht des Hochkönigs Diarmaid in Tara, der an das keltische Recht gebunden war. »Zu jeder Kuh ihr Kalb«, heißt es da, sodass Diarmaid entschied: »Zu jedem Buch sein SohnBuch.« Columba akzeptierte das Urteil nicht, woraufhin König Diarmaid eine Armee in Bewegung setzte, um die Kopie sicherzustellen. Der Prior wiederum rief seinen Verwandten Niall of Ulster zu Hilfe. Während der Schlacht wurde der Hochkönig getötet, was die Verbannung Columbas aus Irland zur Folge hatte. Er gründete auf der schottischen Insel Iona ein weiteres Kloster, in dem Irlands literarischer Kronschatz geschrieben wurde: The Book of Kells, das Buch der Kelten. Teile der Kopie von Columbas Psalmenabschrift werden übrigens heute sorgsam in der Royal Irish Academy aufbewahrt.
In der vorchristlich keltisch-irischen Gesellschaft führten die Hierarchie der Gelehrten die Dichter an, noch vor den Rechtsgelehrten und den Heilkundigen. Besonders die aus dem Kreis der Druiden stammenden Dichterpriester genossen hohes Ansehen, nahmen sie doch eine Vermittlerfunktion zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Die Welt der keltischen Mythen ist bevölkert von Feen, Geistern und Elfen, von Göttern, Unholden und Kobolden. Dichterpriester stellten den Kontakt zu
ihnen her, sie waren Seher, Magier und Deuter zugleich. Sie hatten zugleich die Aufgabe, historische Ereignisse und besonders die Heldentaten der Könige in Verse zu gießen und in Gesängen, meist begleitet von der Harfe, landesweit vorzutragen. Sie wurden hofiert. In ihren Heldenlieder aufgenommen zu werden, war der Wunsch aller Fürsten. Die Poeten hatten sogar die Macht, Könige zu stürzen, denn kein Clan wollte von einem König angeführt werden, über den der Dichter spottet: »Ein Pferd war mein Gedicht ihm wohl nicht wert. Es geben seinesgleichen stets für solche Mühe – Kü-
he.« Derart beschwerte sich beispielsweise ein Poet im 6. Jahrhundert über einen knauserigen Fürsten, der seinen Geiz hernach bitter bereut haben dürfte.
Über viele Jahrhunderte war die irisch-keltische Kultur in der Nationalsprache der Iren, dem Gälischen, aufgehoben. »Und die Sprache der Dichter und der Schreibkundigen war eben in Begriff zur größeren Kraft und höheren Schönheit vorzustoßen, als die erste englische Invasion dazwischentrat, um die lang anhaltende, blutige Unterwerfung des Volkes einzuleiten«, klagte der irische Dramatiker und Freiheitskämpfer Sean O’Casey (1880 – 1964). Er versäumte nicht darauf hinzuweisen, dass schon die Dänen (in Irland Synonym für Wikinger) »Feuer an allem legten, was brennen wollte, und Tausende Manuskripte vergingen in den Flammen«.
Der brutalste Eingriff nicht nur in die Kultur der Iren war 1695 die Einführung der Zwangsgesetze gegen die Katholiken durch die Engländer, die faktisch jeden Iren trafen und zugleich deren Sprache, Sitten und Bräuche verboten, samt eigener Unterrichtung der Heranwachsenden. Nach der Großen Hungersnot von 1845 bis 1849, bei der weit über eine Million Iren starben und doppelt so viele nach Amerika auswanderten, wurde die irische Sprache nicht mehr von der Mehrheit des Volkes gesprochen, untergegangen ist sie nicht.
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Wer nun umgekehrt von Donegal nach Connemarra im Westen fährt und bei Swinford in County Mayo die N 15 verlässt, kommt durch Kiltamagh. Hier wurde 1784 Anthony Raftery geboren. Er besuchte eine der sogenannten Heckenschulen, in denen mutige Iren unter Gottes freiem Himmel, verborgen vor den Briten, ihre Kinder in ihrer Sprache und Kultur unterrichteten. Obwohl im Alter von neun Jahren von den Pocken befallen und erblindet, avancierte Raftery zu einem großen irischen Dichter. Seit frühester Jugend hatte er aufmerksam den Geschichten der Alten gelauscht oder sich diese vorlesen lassen. Er hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis, Quelle seiner Kreativität und Fantasie. Er lernte die Fidel zu spielen und zog rastlos von einem Ort zum anderen, seine Lieder wie auch Geschichten aus der mündlichen Überlieferung seines Volkes vortragend. »Irische Geschichte«, schrieb die legendäre Dubliner Theaterfrau Lady Isabelle Augusta Gregory (1852 – 1932), »wurde zu der Zeit den Leuten in County Mayo und Galway vornehmlich von Raftery vermittelt«, in gälischen Sprache, versteht sich.
Raftery steht für Hunderte Volkspoeten und Barden, die in Zeiten der britischen Unterdrückung die irische Kultur am Leben erhielten. Sie standen zweifellos in der Tradition der keltischen Poeten, aus der noch die moderne irische Literatur schöpft.
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Als Irland schrittweise, zunächst Selbstständigkeit und dann Unabhängigkeit erfochten hatte, war es die katholische Kirche, die Sturm lief gegen die irische Literatur und nahezu alles auf den Index setzte, was Irlands Poeten zu Papier brachten – obwohl sie zuvor alle nationale Schmach und Drangsal der Iren unter englischen Joch miterlitten hatte. Irlands Weltliteratur entstand nunmehr vornehmlich in englischer Sprache und im Exil. Irlands Dichter zahlten es den Ignoranten aber ordentlich heim, indem sie gleich vier Mal den Literaturnobelpreis errangen.
Um die historisch-literarische Rundreise zu vervollständigen, ist eine Rückkehr nach Drumcliff geboten, um dort auf einen weiteren Poeten zu treffen. Auf dem Weg zurück kommt man nahe dem Städtchen Claremorris am Grab der »irischen Ballladenkönigin« Delia Murphy vorbei, die 1971 verstarb. Ein Freund rief ihr zu ihrer Beerdigung nach: »Es braucht hundert Dinge, um aus einem Menschen eine Sängerin zu machen. Deelyeen, Du hattest keine Stimme, aber bei Gott, Du hattest die anderen neunundneunzig!« Womit klar sein dürfte, worauf es den Iren ankommt.
In Drumcliff angekommen, sollte man das Grab von William Butler Yeats (1865 – 1939) aufsuchen, Poet, Dramatiker und Essayist, der Ende des 19. Jahrhunderts entscheidende Impulse für die »Irische Renaissance« gab und ohne den die moderne irische Nationalliteratur wohl nicht entstanden wäre. Yeats, Literaturnobelpreisträger von 1923, wurde in Sligo geboren. Hierhin, in das Land seiner Kindheit, das im Schatten von Ben Bulben liegt, kehrte er immer wieder zurück. In seinem Poem »Ben Bulben«, über dessen Korrektur er in Roquebrune an der französischen Riviera verstarb, bestimmte er den Platz,
Irlands Poeten hatten die Macht, Könige zu stürzen, denn kein Clan wollte von einem König angeführt werden, über den der Dichter spottet.
an dem er begraben sein wollte: »Under bare Benbulbens head in Drumcliff church-yard Yeats is laid.« Im Schatten des Ben Bulben auf dem Kirchhof von Drumcliff ... Auf seinem Grabstein steht geschrieben: »Cast an cold eye on life, on death. Horseman, pass by.« Werfe einen Blick auf das Leben, auf den Tod. Dann, Reitersmann, ziehe weiter.
Und da die Iren ihre Poeten nach dem Prinzip »Dichter sind Eigentum der Gemeinschaft« verehren, haben die Leute von Sligo ihre Region mit einer Landschaft voller Poesie zum Yeats Country, zur Grafschaft Yeats, erklärt.