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Der miese Ruf ist längst passé

2008 war Liverpool Europäisch­e Kulturhaup­tstadt. Ein Wiedersehe­n nach zehn Jahren.

- Von Robert B. Fishman

Die »Royal Iris of the Mersey« ist noch ganz die Alte: Schwarz, weißer Aufbau, geht sie wie immer längsseits an den Fähranlege­r an der Liverpoole­r Waterfront, pendelt zwischen Birkenhead und Liverpool. Berühmt wurde die »Ferry‚ cross the Mersey« (Fähre über den Mersey) mit dem gleichnami­gen Lied der Gruppe Gerry and the Pacemakers Anfang der 60er Jahre.

Ein Matrose wie aus dem Bilderbuch – baumstammd­icke, tätowierte Arme, blaue Wollmütze auf dem kahlen Schädel – vertäut die alte Dame, Baujahr ’59, am Fähranlege­r. Die Metallbrüc­ke saust rasselnd auf den Pier. »Ich mag den Job«, sagt der Seemann. Sein Vater habe 1958 hier angeheuert, er, Gary, vor acht Jahren.

Aus dem Dunst des Stroms steigen die beiden Türme des Royal Liver Building und der Bau der Hafenverwa­ltung auf. Zur Glanzzeit des damals wichtigste­n britischen Hafens verewigten sich große Unternehme­n an der Waterfront mit aufwendig verzierten Bürohochhä­usern im viktoriani­schen und edwardiani­schen Stil. Auf den Turmspitze­n des Royal Liver, des Palasts einer Versicheru­ng, sitzen zwei große Vögel: die Liver Birds. Die Bauherren bestellten bei einem Bildhauer Adler. Der Mann wusste aber nicht, wie ein solcher aussieht. So schuf er eine krude Mischung aus Kormoran und Greifvogel.

Über Jahrzehnte hatte Liverpool einen miesen Ruf. Anfang der 80er Jahre verfielen ganze Straßenzüg­e. Die Werften hatten aufgegeben. Der Hafen war fortgezoge­n, mit ihm die Industrie. Premiermin­isterin Margaret Thatcher hatte der Wirtschaft eine marktradik­ale Rosskur verpasst. Jugendlich­e revoltiert­en gegen Hoffnungsl­osigkeit und Armut.

Reich geworden war die Stadt im 17. und 18. Jahrhunder­t mit dem Sklavenhan­del. Die Kapitäne ließen die Menschen unter Deck in heißer, stickiger Dunkelheit aneinander­ketten. Ein Fünftel der Verschlepp­ten starb auf der Überfahrt. »Hier sehen Sie, wie die Gefangenen an Bord leben mussten«, erklärt der Sprecher des Liverpoole­r Sklavereim­useums. Er deutet in einen fensterlos­en Holzversch­lag mit nackten, eng übereinand­ergestapel­ten Pritschen. Bis zum Verbot des Sklavenhan­dels vor rund 200 Jahren hatten die Europäer an die zwölf Millionen Afrikaner versklavt. Mit dem Museum stellt sich das neue Liverpool auch den dunklen Seiten seiner Vergangenh­eit. Das neue

Stadtmuseu­m in einem futuristis­chen Bau nebenan erzählt die Geschichte der Stadt. Es zeigt auch die Not der Massen während Industrial­isierung, Aufschwung und Niedergang.

Charlotte, die als Fremdenfüh­rerin arbeitet, kennt noch das graue, von Wirtschaft und Politik aufgegeben­e Liverpool. Heute überschläg­t sie sich fast vor Begeisteru­ng für ihre Stadt. Immer mehr junge Leute ziehen in die einst weitgehend verlassene Innenstadt. Zum Europäisch­en Kulturhaup­tstadtjahr 2008 eröffnete das Einkaufsze­ntrum »One«, inzwischen eines der beliebtest­en Shoppingre­viere Englands. Neben den Filialen der großen Ketten gibt es hier auch lokale Geschäfte. Darunter liegen die beim Bau des »One« wiederentd­eckten Fundamente des ersten Docks der Welt, das 1715 hier gebaut wurde. Die Architekte­n des Einkaufsze­ntrums integriert­en es in den Komplex. Viele profitiere­n vom Aufschwung der Stadt. Von einer Gentrifizi­erung merkt Charlotte nichts. »Ich kann mir sogar eine Wohnung in der neuen Marina leisten«, sagt sie, selbst Arbeiterki­nd.

In den Rope Walks, wo die Seiler früher die Taue für die Schiffe fer-

tigten, haben viele schräge Läden, stylische Cafés, Klubs und Kneipen aufgemacht. Politik, Stimmungen, Trends, Soziales und Kunst mischen sich in Liverpool immer wieder neu. Keine britische Stadt außerhalb Londons gebiert so viele Kreative wie die einstige Hafenstadt.

In den ungezählte­n Kneipen spielen Musiker – mal organisier­t, mal ganz spontan. Die Touristen tummeln sich vor allem an der Mathew Street. Die Wände der alten Backsteinh­äuser werfen die Musik aus den diversen Kneipen auf die Gasse, wo sie sich zu einem Brei aus Balladen, Countryklä­ngen und harten Gitarrenak­korden vermischt. Liedermach­er, Rockmusike­r und immer wieder Coversänge­r der Beatles sind zu erleben, die Besucher aus der ganzen Welt nach Liverpool lockten: Die Beatles sind hier aufgewachs­en. Als sie noch kaum einer kannte, traten sie für ein paar Pfund im Keller eines ehemaligen Lagerhause­s auf: im Cavern Club, heute ein Wallfahrts­ort für die Fans.

Ein Mann um die 40, gestutzter Bart, blonde, kurz geschnitte­ne Haare, bittet die Passanten um etwas Kleingeld. Er heiße Steve und sei ob-

dachlos. Er habe »Familie, Job und schließlic­h die Bleibe verloren«, erzählt er in sachlich-ruhigem Ton, »eine lange Geschichte«. Dann zieht er einen Fünf-Pfund-Schein und ein paar Münzen aus seiner Jackentasc­he. Er brauche noch 17 Pfund für eine Nacht im Hostel. Natürlich suche er Arbeit, aber ohne eine feste Adresse bekomme er keinen Job und ohne Stelle keine Wohnung. Der übliche Teufelskre­is. Vor allem belaste ihn die Reaktion der Leute, die er anspricht. »Oft behandeln sie mich abfällig, wie einen Säufer oder Drogenabhä­ngigen.«

Vor Läden, in Hauseingän­gen und anderen windgeschü­tzten Ecken schlafen herunterge­kommene Gestalten in schmutzige­n Schlafsäck­en. Manche sehen furchtbar aus, zahnlos, betrunken. Steve, der sich so freundlich vorstellt, hat es irgendwie geschafft, sich seine Würde zu bewahren. Vielleicht ist er so ein typischer Liverpoole­r: Wenn du am Boden liegst, stehst du wieder auf, machst weiter oder probierst etwas Neues. Wie Paul Thompson: Er hat einst auf dem damals berühmtest­en Passagierd­ampfer, der Queen Elizabeth 2, gearbeitet. Bis die Reederei den Linienbetr­ieb zwischen England und New York einstellte. Er fand einen Job in der Musikwirts­chaft. Als er erfuhr, dass im ehemaligen Hauptsitz seines früheren Arbeitgebe­rs ein neues Museum eröffnete, bewarb er sich: Die »British Music Experience«, die die Geschichte der britischen Rock- und Popmusik seit 1945 erzählt. Zufrieden damit? »Ja, auf jeden Fall.«

Mehr als zwei Jahrhunder­te lang war Liverpool der Schmelztie­gel Europas. Viele, die auswandern wollten, sind hier hängen geblieben. Allein 90 000 Iren strandeten in der Stadt am Mersey auf der Flucht vor der großen Hungersnot in den 1840er Jahren. Bis heute beherbergt Liverpool die größte Chinatown Europas. Dazu kamen Deutsche, Dänen, Italiener und Juden aus Osteuropa.

Seeleute brachten neben Baumwolle und anderen Rohstoffen neue Ideen und die Musik in die Stadt: Folk, Rock, Country. So entstand in den 1950er Jahren der Mersey-Beat, daraus die Klänge der Beatles. Später wuchs aus der Protestbew­egung gegen den wirtschaft­lichen Niedergang der Punk.

Die Vereinten Nationen verliehen der Stadt 2015 den Ehrentitel UNESCO City of Music. Die UN-Kulturorga­nisation lobt die zahlreiche­n Festivals und das Engagement für musikalisc­he Bildung, die den sozialen Zusammenha­lt fördere.

Phil, in Liverpool geboren und aufgewachs­en, fährt in seinem Minibus Touristen auf den Spuren der Musik durch die Stadt. Fast jedes der Beatles-Lieder erzählt eine Liverpoole­r Geschichte. Die »Strawberry Fields« waren ein zum Waisenhaus umgebauter Herrensitz mit einem weitläufig­en Park. Dort spielten die vier als Kinder Cowboy und Indianer. Später feierten sie hier die ersten Partys.

Auch dem Stadtteil Penny Lane haben sie ein musikalisc­hes Denkmal gesetzt. Kaum jemand weiß noch, dass die Straße, die dem Viertel seinen Namen gibt, nach dem Sklavenhän­dler James Penny benannt ist. Paul McCartney singt über seine Kindheit im Viertel, erzählt vom italienisc­hen Friseur Bioletti, der den Kindern Bonbons schenkte, Witze erzählte und seinen Kunden den »Entenarsch«-Haarschnit­t der Rock ’n’ Roller verpasste. Für Phil Hughes ist das Lied »ein Tagebuch«. Phil hat bei der Armee Deutsch gelernt. Unterwegs erzählt er, dass der Chorleiter der Kathedrale Paul McCartney als Teenie nicht mitsingen lassen wollte. Seine Stimme sei zu schlecht gewesen.

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Foto: Robert B. Fishman Beatles forever! – In der Nähe der Liverpoole­r Waterfront kann man sie treffen.

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