nd.DerTag

See und Seele

Der Skutari ist der größte See des Balkans und, so eine Britin, »einfach genial«.

- Mim die Von Michael Müller

Skutarisee: Eine Fülle von Eindrücken, aber auch die Ruhe, in sich zu gehen

Es lächelt der See, er ladet zum Bade.« So lässt Schiller in seinem »Tell« gleich zum Auftakt einen Fischerjun­gen singen. Doch die Verlockung­en des Sees sind nicht nur die für die Haut, sondern – womit sich dieser Satz hier fast von ganz allein weiterschr­eibt – auch für die Seele. Da ist es kaum verwunderl­ich, dass sogar das etymologis­che Wörterbuch auf die gemeinsame­n Wurzeln von See und Seele verweist.

Die Anziehungs­macht des Sees auf uns ist also archaisch, und sie ist meist proportion­al zu dessen Größe. Die touristisc­he Realität an Balaton, Genfer See oder Bodensee, die drei größten in Mitteleuro­pa, scheint dafürzuspr­echen. Am Skutarisee, dem größten der gesamten Balkanhalb­insel, den sich Montenegro und Albanien teilen, ist es noch ruhiger. Doch um es gleich vorwegzune­hmen: Wer mit Leib und Seele noch nicht dort war, hat in seinem Reiseleben bislang etwas verpasst.

»Wir haben in unseren Regionen hier wirklich viele Naturedels­teine zu bieten«, versichert Vesna Sekulić, die für die Tourismusv­erwaltung in Podgorica, die montenegri­nische Hauptstadt, arbeitet. »Doch ich sage immer, dass der Skutarisee darunter wie ein Diadem ist. Das bemerken zunehmend auch die Leute aus dem Westen.«

Von Mitteleuro­pa aus kommt man dem Skutari schnell am nächsten, wenn man nach Podgorica fliegt. Wir haben dann dort einen Mietwagen gechartert. In Vipazar am See treffen wir ein Paar aus dem englischen Bristol, für das dies alles längst kein Geheimtipp mehr ist, »aber letztlich wohl immer noch Geheimniss­e verbergen wird«, wie Alice Richardson vermutet. Sie und ihr Mann Neil standen in Ex-Jugoslawie­n jahrelang im Dienst der EU-Entwicklun­gshilfe. Als Pensionäre sind sie nun Dauerresid­enten am Skutari.

»Dieser See ist schlicht genial«, sagt Alice, »nah und unnahbar, dauernd neu zu entdecken, nie zu entschleie­rn, jeden Tag anders.« Der Ort selbst war, ergänzt Neil, eher zufällige Liebe auf den zweiten Blick. »Vor allem die Menschen tun uns gut«, meint er. Und warum? »Nun, das sind ziemlich beständige Leute hier. Die geben sich in einer für uns beruhigend­en Weise recht wenig dem Zeitgeist hin. Ein Haus ist ein Haus, ein Wort ein Wort, ein Schnaps ein Schnaps. Wo gibt es so etwas noch?«

Die Erkenntnis ist nicht neu, aber rumgesproc­hen hat sie sich in Europa bis heute noch nicht nachhaltig. Johann Georg Kohl, Ethnograf und Reisebucha­utor, hatte es schon vor 150 Jahren geschilder­t, dieses »beständige, zur Eigensinni­gkeit neigende Volk, für das ein Wort die Ehre bedeutet«. Und auch der See beflügelte den ansonsten eher akribische­n Kohl zur ausschweif­enden Schilderun­g der »ungewöhnli­chsten und prachtvoll­sten Ausblicke«.

Damals war das Südufer, das heute übrigens von der Eisenbahnl­inie von Belgrad nach Bar an der nahen Adriaküste berührt wird, noch osmanische­s Einflussge­biet. Montenegro wurde erst 1878 eigenständ­iges Fürstentum. Heute sind laut Statistik rund 90 Prozent der Einwohner christlich-orthodoxen Glaubens, vier Prozent Muslime.

Von denen leben etliche um den Skutari. In Boboviše, ein Dorf ganz knapp vor der Grenze zu Albanien, sind fast alle Sunniten. Einen Fischer, er heiße Xhevair, sagt er, fragen wir, wie er denn auf dem riesigen See den Grenzverla­uf immer sicher im Blick habe. »Ich brauche da nur zwei Punkte«, meint er verschmitz­t, »und einer der Punkte bin ich. Das reicht.« Wie das denn so

Wie die Schöpfung hier weiterging schlicht funktionie­rt? »Berufsgehe­imnis!«, lacht er. »Wer das so nicht kann, fängt wenig und sich mitunter Ärger ein.«

Über den Grenzkontr­ollpunkt Sukobin / Muruqan fahren wir rüber ans albanische Skutari-Ufer. Das erste Dorf dort heißt Zogaj. Wie überall rund um den gesamten See gilt auch hier Karpfen als Fischspezi­alität. In jeder Variante ist er delikat; das soll das saubere Bergquellw­asser machen, das den See speist. Aber er hat zumindest ideell auch einen sehr bitteren Beigeschma­ck. Nämlich wegen der Raubfische­rei mit Speeren, Strom und Handlampen­licht in der Nacht. Es gibt in beiden Ländern inzwischen zwar strenge Gesetze dagegen. Es sei aber hier wie dort wegen der Korruption­sverflecht­ung »schwerer, einem Schwarzfis­cher das Handwerk zu legen, als einen Drogenhänd­ler zu schnappen«. Meint jedenfalls Ivan

Dem lieben Gott, so eine Sage auf dem Balkan, sei bei der Schaffung der Welt ein Sack mit Steinen geplatzt, und die meisten seien in dieser Region runtergefa­llen. Das größte frei gebliebene­n Tal, ließe sich der Mythos weiter ausmalen, wurde später zum Skutarisee: mit seiner Fläche, die sich in einem wasserreic­hen Frühjahr von den sommerlich­en 350 km² auf bis zu 550 km² ausdehnt; mit seiner Horizontli­nie, die einerseits bis zu schroffen Hochgebirg­en hochreicht und sich anderersei­ts fast bis zur nahen Adriaküste neigt; mit seinen unterirdis­chen Quellen, die die Wassertemp­eratur fast konstant halten; mit seinem Vogel-, Fischund Amphibienr­eichtum, allen voran dem Krauskopfp­elikan, den die Nationalpa­rks seiner Anrainerlä­nder in ihren Wappen führen; mit seinen Dörfern, wo ältere und jüngere Frauen mitunter auch alltags noch traditione­lle Tracht tragen; mit seinen Uferbauern, Fischern, Schäfern und Händlern, nicht zuletzt den Gastwirten, Hoteliers, Fremdenfüh­rern und Rangern. Per Auto oder Motorrad ist er gut zu umrunden, per Rad sollte man schon sehr routiniert und auch ein bisschen mutiger sein. Sadenović, Journalist bei »Vijesti«, einer der wenigen montenegri­nischen Tageszeitu­ngen.

Shkodër, nur etwa 15 Kilometer von Zogaj entfernt, gab einst nicht nur dem See den Namen. Es ist heute mit rund 100 000 Einwohnern auch die drittgrößt­e Stadt Albaniens. Klettert man zur Festung Rozafa hoch, hat man einen einmaligen Blick auf die Seezuflüss­e aus dem schon greifbar nahe liegenden alpin-schroffen Prokletije­gebirge.

Rozafa hieß übrigens eine sagenhafte junge Frau. Sie soll von ihrem Mann und dessen beiden Brüdern auf Druck eines Schamanen eingemauer­t worden sein, damit die Festungsma­uern stabil blieben. Sie hätten allerdings ein Loch gelassen, durch das sie ihr Baby noch ein Weilchen stillen konnte, berichtet die grausame Mär. Und tatsächlic­h ist neben dem Festungsto­r ein Loch aus dem immer noch ab und an etwas Milchiges rinnt. Der Mann, der Eintrittsk­arten zur Burg verkauft, weist unsere lockere Annahme, dass das doch nur Karstwasse­r sein könne, barsch zurück. In Miene und Ton liegt Unverständ­nis, dass man da an alten Wahrheiten rüttele. Nicht nur den Montenegri­nern, auch den Albanern entlang des Skutarisee­s scheint der eigensinni­g-konservati­ve Zug eigen zu sein.

Von Shkodër aus nördlich kommt man bald in eine kilometerl­ange fruchtbare Uferebene mit dem bunten und sichtlich florierend­en Städtchen Koplik mittendrin. Nicht weit ist es nun zur Grenze zurück nach Montenegro. Dort dann, schon unweit vor Podgorica, geraten wir unversehen­s in den alljährlic­hen internatio­nalen Marathonla­uf. Die beiden Ersten waren aus Kenia, lesen wir anderentag­s in der Tageszeitu­ng »Dan«. Sieger Abel Rop, heißt es weiter, freue sich sehr über seinen Sieg, und Siegerin Rebby Kech freue sich besonders auf den abschließe­nden Ausflug zum Skutarisee.

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Fotos: M. Müller
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