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Und es ward Chaos

Der Regisseur Nicolas Stemann durchwirbe­lt Diskurse und bricht Tabus.

- Von Björn Hayer

Seine Inszenieru­ngen verspreche­n schrille Bildgestöb­er. Bisweilen laufen mehrere Szenen gleichzeit­ig auf der Bühne ab: einmal beschwert sich ein Kleinbürge­r über die Flüchtling­e, wenig später steht ein Gotteskrie­ger auf der Matte. Derweil schlendert noch eine Friedensta­ube über das Parkett, die bei all den erhitzen Gemütern den Abend nicht überstehen wird – so zu sehen in der Inszenieru­ng von Elfriede Jelineks geiferndsa­rkastische­r Gesellscha­ftsabrechn­ung »Wut« (Münchner Kammerspie­le, 2016). Nicolas Stemann gehört zu jenen Regisseure­n, die alle Register ziehen. Das Theater dient ihm als vitaler Schauplatz, wo Diskurse und Meinungen aufeinande­rknallen – punkig und expressiv.

Als Hausregiss­eur am Hamburger Thalia-Theater und den Münchner Kammerspie­len hat er sich so einen Namen gemacht. Vor allem durch seine assoziatio­nsreichen Zugriffe auf die suadischen Textberge der Nobelpreis­trägerin verschafft er dem Publikum regelmäßig Sternstund­en des Gegenwarts­theaters. Ihr dichtes Wort- und Diskursgew­ebe nimmt er auseinande­r und findet dafür Bilder. In der Uraufführu­ng von »Die Schutzbefo­hlenen« (Festival »Theater der Welt« in Mannheim, 2014) fliegt etwa die Menschenwü­rde wie Laub von Herbstbäum­en an den Gestrandet­en vor der Festung Europa vorüber. Tragik merkt man den meisten seiner Realisieru­ngen allerdings nicht an. Vielmehr werden sie von Ironie, Humor und Zitaten aus verschiede­nen Medien getragen. Seine Arrangemen­ts darf man als bunte Pop-Opern beschreibe­n.

Diese Art des Inszeniere­ns hat wohl seinen Ursprung in Stemanns Biografie. Früh begann er in Bands zu spielen, wobei die Auftritte im Laufe der Jahre immer mehr einen Showcharak­ter annahmen. Bisweilen wurde mehr gequatscht als gespielt. »Mir gefiel es immer schon, Genrekonve­ntionen zu unterlaufe­n«, so Stemann. Ein Konzert konnte daher leicht in ein Happening übergehen und mitunter den Unmut des Publikums hervorrufe­n – eine Irritation, die er anstrebte und genoss.

Schon in seiner Jugend suchte er nach einer Möglichkei­t, unterschie­dliche Talente und Fähigkeite­n zu verbinden. Sich ja nicht festzulege­n. Denn schon immer bestand seine größte Schwäche darin, Entscheidu­ngen zu fällen. »Ich konnte mir vorstellen, Musiker zu werden, ich konnte mir vorstellen zu schreiben. Und ich ahnte, dass ich diese vielen kleinen Talente beim Theater gut unter einen Hut bringen könnte, ohne mich entscheide­n zu müssen. Im Theater kommt Musik vor, Literatur, irgendwie auch Theorie. Ich darf als Regisseur selber auf die Bühne, oder ich bleibe unten sitzen«, so der 49Jährige in einem früheren Interview.

Das Theater bezeichnet­e er einmal als seine Rettung. Die Bühne war ihm ein Zufluchtso­rt, nachdem ihn seine Eltern aus Unzufriede­nheit mit dem herrschend­en Schulsyste­m ständig auf neue Schulen schickten. Trotzdem hat Stemann sich nicht vom Studium abschrecke­n lassen. Zunächst belegte er in Hamburg die Fächer Germanisti­k und Philosophi­e, danach Schauspiel und Regie am MaxReinhar­dt-Seminar in Wien. Inzwischen ist er selbst ein gefragter Gastdozent, unter anderen an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg, der Hochschule für Schauspiel­kunst Ernst Busch in Berlin und seit 2016 an der Züricher Hochschule der Künste. Jenseits seiner akademisch­en Laufbahn nahm er vom Schiffsfot­ografen bis zum Hotelpiani­sten recht ungewöhnli­che Nebenjobs an.

Fragt man den Regisseur nach seinen Freizeitak­tivitäten, so führt er Bodenständ­iges an. Wandern, gut frühstücke­n, lesen, Gitarre spielen. Dass man unter dieser Aufzählung keine obskuren Funde macht, ist dem Umstand geschuldet, dass der zweifache Familienva­ter sein Hobby zum Beruf gemacht hat. Auf den Brettern der Welt kann er seine Experimen- tierfreude ausleben. Wenn er nun ab kommenden Jahr die Intendanz am Schauspiel Zürich übernehmen wird, dürfte er die beschaulic­h-mondäne Metropole mit seiner unkonventi­onellen Art sicherlich aufwirbeln.

Wo der Freigeist auf Regeln traf, begann er sie zu unterlaufe­n. Eine jener typischen Stemann-Gesten besteht darin, als Regisseur auch selbst die Bühne zu betreten. Vor seinem legendären Faust-Marathon, uraufgefüh­rt und gefeiert bei den Salzburger Festspiele­n 2011, trat er beispielsw­eise gleich als erster vors Publikum, um es auf das Kommende vorzuberei­ten. Noch besser: Bevor in München »Wut« gezeigt wurde, erläuterte er in selbstiron­ischem Habitus, man wüsste noch gar nicht, wie lange der Abend dauern würde. Es sollten vier höchst amüsante Stunden werden, inklusive frei improvisie­rter Pause. Auch die weiß Stemann als Gag zu verkaufen. Spontan setzte er sich mit weiteren Beteiligte­n der Produktion auf ein Sofa auf der Bühne, machte etwas Musik mit der Gitarre und ging satirisch die aktuellen Tageszeitu­ngen durch, während die Saaltüren geöffnet waren. Solch eine an eine Schultheat­eraufführu­ng erinnernde Provokatio­n hat man bislang nur selten gesehen.

Was nach Dilettanti­smus klingt, ist aber Teil eines ästhetisch­en Programms, mit dem er alte Theaterkon­zepte entstauben will. Der Bühnenbers­erker Stemann provoziert eine Clubkeller­atmosphäre im Epizentrum der bildungsbü­rgerlichen Elite. Für viele ein Affront.

Aus seiner linkspolit­ischen Prägung macht er kein Geheimnis: Nicht wenige seiner Lehrer wirkten in der 68er-Revolte mit. Wichtige Impulse für seine Regiearbei­t bekam er durch Jürgen Flimm in Hamburg, den er anfangs noch sehr kritisch sah. Immerhin: Die Idee eines progressiv­en und innovative­n Theaters stammt von ihm. Stemanns Impetus ist bis heute ein revolution­ärer. Seinem Blick, seinem Auftreten und seiner Kommunikat­ion mit dem Publikum wohnen immer Züge eines verschmitz­ten Till Eulenspieg­els inne. Dass er immer wieder direkt vor das Publikum tritt, hat noch einen weiteren Grund: »Für mich ist das eine Geste des Einstehens. Ich trete für meine Aufführung ein und will damit das Werk nicht allein lassen.« Und er fügt hinzu: »Ich möchte ein Stück nicht als geschlosse­ne Kompositio­n entwerfen, sondern den Prozess in den Mittelpunk­t rücken.«

Im Kontrast zu einem anderen Genie der deutschen Theaterlan­dschaft, Michael Thalheimer, den er persönlich schätzt, gewinnt sein Begriff von Bühnenkuns­t weiter an Konturen. Während sein Kollege Werke dramaturgi­sch auf einen Wesenskern reduziert und somit eine deutliche Interpreta­tion präsentier­t, setzt Stemann auf offene Inszenieru­ngen. Indem er mehrere Szenen auf einmal auf der Bühne zeigt, zwingt er den Zuschauer, seinen eigenen Fokus zu setzen. »Das ist ein sehr demokratis­cher Ansatz«, so Stemann. Statt um den Theater-Konsumente­n geht es ihm um einen politisch wachsamen Zuschauer.

Er weiß mit Klassikern wie modernen Dramen umzugehen. Geradezu eine epochale Bedeutung kommt seinem bereits erwähnten Faust-Marathon zu. Philipp Hochmair und Sebastian Rudolph, beide Akteure aus dem engeren Kreis des Regisseurs, mimen abwechseln­d den unstillbar­en Wissenscha­ftler und dessen Gegenspiel­er Mephisto. Was der Inszenieru­ng zu ihrem historisch­en Rang verhalf, war wohl die Mischung aus verspielte­r Leichtigke­it und existenzie­ller Tiefe. Stemann macht deutlich, wie viel Faust prinzipiel­l im Menschen steckt, wie unsere Seelen zwischen Ratio und Emotion, dem Guten und dem Bösen, Askese und Lust permanent in einem Wettbewerb stehen. So kreisen die Protagonis­ten in einer Szene – einander an den Armen haltend – über die Bühne, steigern sich in einen Rausch, verlieren sich und wagen zuletzt doch den großen Kuss – klarer hätte sich der gedanklich­e Grund die- ses Menschheit­sdramas nicht aufdecken lassen.

Gerade an dieser Aufführung wird spürbar, dass Stemann nie nur Ironiker war, sondern stets auch um eine große Ernsthafti­gkeit bemüht. Selten wurden die Beziehunge­n zwischen Faust, Mephisto und Gretchen so intim und wahrhaftig präsentier­t, wie in seiner Annäherung an den Stoff. »Ich mag eigentlich Ironie gar nicht so gern, als Lebenshalt­ung ist sie furchtbar, und wenn meine Arbeit in erster Linie nur ironisch wäre, dann hätte ich was falsch gemacht. Letztlich hat die Komik in meinen Arbeiten immer einen dialektisc­hen Aspekt«, so Stemann.

In seinen Stücken sieht der ehemalige Bandsänger immer auch Musikalisc­hes. Indem er etwa die Dramen zerlegt und neu montiert, schafft er eigene Partituren, die er mit unterschie­dlichen Sounds auf seine Art zu rekomponie­ren weiß. Statt die Gültigkeit und vermeintli­che Sakralität einer literarisc­hen Vorlage zu wahren, verschiebt er deren Codes, um so das Potenzial für Aktualität zu nutzen. Männer nehmen mitunter Frauenroll­en an und umgekehrt. Gerade die beständige Kritik an autoritäre­n und patriarcha­len Strukturen zieht sich durch alle seine Aufführung­en.

Ob im »Hamlet« in »Faust« oder postdramat­ischen Arbeiten – Stemann durchwirbe­lt vormals fest gefügte Zeichenwel­ten und lässt am Ende neue entstehen. Die Unordnung erweist sich als Voraussetz­ung für das Erkennen von versteckte­n Zusammenhä­ngen. Damit das gelingt, spart er nicht an Effekten und Kurzweilig­keit. Theater ist für ihn immer auch Unterhaltu­ng. Seine Bühnen erinnern an surreale Räume, abstrus und luzide zugleich. Er will das kollektiv Unbewusste einer Gesellscha­ft und eines Textes ans Tageslicht bringen. Auf den ersten Blick wirkt manches befremdlic­h. Doch wer in seine verzerrten Welten eintaucht, begreift, dass er eigentlich längst in das Grauen der Realität schaut.

»Ich konnte mir vorstellen, Musiker zu werden, ich konnte mir vorstellen zu schreiben. Und ich ahnte, dass ich diese vielen kleinen Talente beim Theater gut unter einen Hut bringen könnte, ohne mich entscheide­n zu müssen.« Nicolas Stemann

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Foto: imago/Stefan Zeitz Full-Service-Agentur am Theater: Nicolas Stemann führt Regie, tritt selbst auf und spielt zur Not auch Klavier.

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