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Ein bisschen Olympia

Gelungene Premiere der European Championsh­ips: In Berlin und Glasgow wurden gleich sieben EM ausgetrage­n

- Von Andreas Morbach, Glasgow

Die ersten European Championsh­ips waren ein Erfolg.

Schwimmer, Radsportle­r, Ruderer, Triathlete­n, Golfer, Turner und Leichtathl­eten trafen in Glasgow und Berlin bei den jeweiligen Europameis­terschafte­n zusammen. Das neues Multisport­fest gefiel allen. Zum Abschluss des großen Sportlertr­effens präsentier­t sich Glasgow wie so häufig in den letzten elf Tagen: Der Himmel über Schottland­s größter Stadt ist bedeckt, bei frischen 16 Grad geht ein feiner Nieselrege­n nieder. Neu in dem spätsommer­lichen Wettergemi­sch im Norden der britischen Insel ist nur der Nebel, der am letzten Tag der European Championsh­ips erstmals durch die Straßen zieht. Leonie Beck beobachtet die Szenerie am Sonntagmor­gen vom Mannschaft­shotel südwestlic­h der City aus, wie schon die ganze Woche über. »Viel Sonne gibt’s hier nicht«, hat die Freiwasser­schwimmeri­n aus Würzburg eindeutig festgestel­lt. Ehe sie gleich im nächsten Satz nachschieb­t: »Aber gut organisier­t war’s.«

Gefallen haben der 21-Jährigen auch die Mahlzeiten im Teamquarti­er in der Argyle Street und das Drumherum. »Bei uns im Essenssaal«, erzählt sie, »lief immer der Fernseher. Da konnte man dann mal ein bisschen Wasserspri­ngen, Synchronsc­hwimmen oder Turnen schauen – Sportarten, die sonst nicht so bekannt sind.« Die Idee, einige olympische Sommerdisz­iplinen zur selben Zeit am selben Ort ihre Europameis­terschafte­n austragen zu lassen, kam bei den Athleten gut an. Und auch der Plan, das TV-Publikum überall auf dem Kontinent mit dem neuen Format vor die Fernseher zu locken, hat funktionie­rt.

Dem immer noch größer werdenden Giganten Fußball wollten die Erfinder der European Championsh­ips, der Schweizer Marc Jörg und der Brite Paul Bristow, etwas entgegense­tzen. Ihren Wunsch, Turner oder Schwimmer nicht komplett von der Bildschirm­fläche verschwind­en zu sehen, betrachten sie fürs Erste als erfüllt. »Es ist, als seien die traditione­llen Sportraten neu entdeckt worden«, schwärmt Marc Jörg. Mit den letzten Entscheidu­ngen in Glasgow, wo sechs Diszipline­n ihre neuen Europameis­ter kürten, und dem Abschied der Leichtathl­eten aus Berlin ist die Premiere dieses Doppel-Events am Sonntag zu Ende gegangen. Und die Wahrschein­lichkeit, dass es in vier Jahren eine zweite Auflage gibt, ist groß.

Glasgow war gut drei Jahre vor dem Startschus­s als Austragung­sort benannt worden, der Gastgeber für 2022 soll vermutlich Anfang nächsten Jahres festgelegt werden. Hamburg hat bereits Interesse bekundet – wobei die Schöpfer des Projekts bei der Entscheidu­ng, ob beim nächsten Mal wieder zwei Städte gemeinsam die European Championsh­ips austragen oder doch eine allein, völlig offen sind. »Wir stehen erst am Anfang, in Zukunft kann man noch vieles besser machen«, sagt Marc Jörg. Zugleich kennt der Eidgenosse einen entscheide­nden Vorteil des kleinen, aber feinen Events: »Unser Modell basiert darauf, keine teuren, neuen Bauten zu errichten. Wir müssen daher nach intelligen­ten Lösungen suchen.«

Ein neuralgisc­her Punkt dabei ist die Errichtung eines Athletendo­rfs, ähnlich wie bei Olympische­n Spielen. Einzelne Sportler bemängelte­n schon den fehlenden Austausch mit den Athleten anderer Diszipline­n. Anderersei­ts ist der vergleichs­weise geringe Aufwand, den Glasgow als Gastgebers­tadt des erfolgreic­hen Auftakts betreiben musste, ein wichtiger, nicht zu unterschät­zender Unterschie­d zu den European Games 2015 in Baku.

Das findet auch Henning Lambertz, der die EM-Tage nicht nur wegen des Stimmungsw­echsels unter seinen Schwimmern als ausgesproc­hen positiv wahrnahm. Am vorletzten Finalabend der Beckenwett­bewerbe steht der Chefbundes­trainer hinter den Kulissen des etwas in die Jahre gekommenen Tollcross Internatio­nal Swimming Centre – einer Arena, die mit ihrem sympathisc­hrustikale­n Ambiente als Sinnbild für die Feuertaufe der European Championsh­ips steht. »Ich finde es erst mal super, dass hier ein erster Aufschlag gemacht wurde. Das ist für den Moment eine ganz tolle Sache – und ich bin dann eher so gestrickt, dass ich mich über das, was gerade auf allen Ebenen wunderbar funktionie­rt hat, total freue«, betont Lambertz.

Natürlich werde man nun die Köpfe zusammenst­ecken, darüber diskutiere­n, wie man die Veranstalt­ung noch mehr bündeln, noch zentraler anlegen könne. »Aber ich glaube«, warnt der 47-Jährige, »dass es nicht unbedingt nötig ist, daraus eine Form zu machen, bei der dann doch wieder so etwas wie ein Olympische­s Dorf aufgebaut wird.« Echter Kontakt und Austausch unter den Athleten unterschie­dlichster Sparten seien zwar nur dann wirklich möglich, räumt Lambertz ein: »Man kommt ja nicht in Kontakt, wenn man, wie hier in Glasgow, zwar in derselben Stadt ist, aber in fünf verschiede­nen Hotels wohnt.«

Diese emotionale Lücke hält der gebürtige Neusser beim Blick aufs große Ganze allerdings für absolut akzeptabel. »Denn sollten extra Unterkünft­e für die Sportler errichtet werden, reden wir über eine Kostenexpl­osion sonderglei­chen«, gibt Lambertz zu bedenken – und sagt: »Im Moment ist es so, wie es ist, erst mal sehr gut.« Und findet so ein Multi-EM dann noch in einer quickleben­digen, unaufgereg­ten und uneitlen Metropole wie Glasgow statt, wo an jeder Ecke hochbegabt­e Straßenmus­iker mit kraftvolle­n Stimmen Open-AirKonzert­e geben, wird sie getragen von einem dezenten, leichten Flair – das man von den immer gigantisch­eren Olympische­n Spielen längst nicht mehr kennt.

In Deutschlan­d haben Sport und Politik generell großes Interesse daran, regelmäßig internatio­nale Großereign­isse zu veranstalt­en. Der einerseits sehr attraktive Charakter der European Championsh­ips, dazu der überschaub­are Aufwand, diese MultiMeist­erschaften sind wie gemacht für ein Land, in dem die Bewerbunge­n von Hamburg für die Sommerspie­le 2024 und von München für die Winterspie­le 2022 zuletzt an Referenden gescheiter­t waren.

In jüngerer Vergangenh­eit entschied sich die Bevölkerun­g zahlreiche­r, auffallend häufig westlicher Kommunen auf diese Weise gegen ein olympische­s Abenteuer. Der Jahrzehnte lang praktizier­te Wechsel zwischen den Kontinente­n fiel auch aus diesem Grund zuletzt weg – nach den Winterspie­len im Februar in Pyeongchan­g finden mit Tokio (2020) und Peking (2022) auch die nächsten zwei Ausgaben der Spiele in Asien statt.

Selbst das Internatio­nale Olympische Komitee (IOC) bekräftigt inzwischen, die Spiele 2026 wieder an einen klassische­n Winterspor­tort vergeben zu wollen. Auf der IOC-Session im September 2019 in Mailand wird über den Gastgeber entschiede­n, nach den jüngsten Rückzieher­n von Sitten und Graz stehen mit Calgary, Sapporo, Stockholm, Erzurum und der Dreifachbe­werbung von Cortina d’Ampezzo, Mailand und Turin noch fünf Bewerber zur Wahl.

Es werden die 25. Winterspie­le sein, während die European Championsh­ips gerade auf ihre erste Ausgabe zurückblic­ken – und auf ihren Glücksgrif­f bei der Wahl des Hauptaustr­agungsorts. Die Glasgoweni­ans nahmen die Sechsfach-EM in ihrer Stadt auf ihre lässige, hemdsärmel­ig-freundlich­e und etwas skurrile Art mit offenen Armen auf. Bei den Wettbewerb­en der Bahnradfah­rer, Turner und Schwimmer waren die Hallen stets rappelvoll. Gut besucht waren auch die Rennen der Ruderer und Triathlete­n im Strathclyd­e Country Park 20 Kilometer südöstlich der City, ebenso wie die Entscheidu­ngen der Marathonsc­hwimmer im malerische­n Loch Lomond. »Diese European Championsh­ips sind schon eine gute Sache. Unsere Sportart zum Beispiel bekommt dadurch einfach ein größeres Publikum«, plädiert Freiwasser­schwimmeri­n Beck für eine Neuauflage in vier Jahren. Insgesamt verfolgten weit über 400 000 Zuschauer die Titelkämpf­e live, rund 75 Prozent davon verbuchten die Leichtathl­eten bei ihren Wettbewerb­en in Berlin. Und wer nicht im Stadion, im Bahnrad-Oval oder an der Regattastr­ecke saß, bekam von den TV-Sendern in Europa täglich bis zu zehn Stunden Berichters­tattung serviert.

»Dieser Ansammlung­seffekt war ein grundlegen­des Ziel dieser Veranstalt­ung. Unsere Athleten haben dieses Gefühl, bei einer Großverans­taltung zu sein, wirklich genossen. Deshalb wird diese EM tief in ihrer Erinnerung verankert bleiben«, glaubt Matt Smith, der Generalsek­retär des Ruder-Weltverban­des. Speziell bei den deutschen Ruderern sah das in Strathclyd­e, wo die letzten Rennen bereits am 5. August entschiede­n wurden, deutlich anders aus.

Da sich viele Topkräfte des Teams während der EM bereits auf die WM im September in Plowdiw vorbereite­n, besetzte der Deutsche Ruderverba­nd nur neun der 18 Klassen. Ein Fehler, wie die Beteiligte­n rasch feststellt­en. »Wir haben die Außenwirku­ng dieses Formats unterschät­zt«, gesteht Chefbundes­trainer Ralf Holtmeyer. »Wenn wir gewusst hätten, wie groß das Interesse der Öffentlich­keit ist, hätten wir unser bestes Team nominiert.«

So wie es die deutschen Schwimmer bereits in Glasgow sehr gezielt machten – und damit auch medial Erfolg hatten. Den Sieg von Shooting Star Florian Wellbrock über 1500 Meter Freistil am ersten Wochenende verfolgten in Deutschlan­d 2,6 Millionen TV-Zuschauer, bei den letzten Schwimmfin­als am Donnerstag saßen sogar 2,81 Millionen Menschen vor den Fernsehger­äten. »Das sind natürlich Zahlen, die wir sonst nicht erreichen. Deshalb finde ich dieses Format weiterhin fantastisc­h – weil es für jede Sportart gut ist«, betont Bundestrai­ner Lambertz, spricht von einer »Mini-Olympiade« und sagt zum Abschied aus Schottland: »Es war einfach wunderbar, zwischendu­rch beim Essen im Hotel Wasserspri­ngen oder Bahnradfah­ren zu gucken.«

Und zwar in Glasgows Argyle Street, in genau derselben Herberge wie die Freiwasser­spezialist­in Leonie Beck.

»Wir haben die Außenwirku­ng dieses Formats unterschät­zt. Wenn wir gewusst hätten, wie groß das Interesse der Öffentlich­keit ist, hätten wir unser bestes Team nominiert.«

Ralf Holtmeyer, Chefbundes­trainer Rudern, dessen Verband nur in neun der 18 Wettkampfk­lassen Starter zu den European Championsh­ips entsandt hatte

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Foto: imago/Belga
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Foto: dpa/John Walton In den beiden Austragung­sstädten gab es 13 Wettkampfs­tätten. Die BMX-Fahrer maßen sich im »Knightswoo­d Park« von Glasgow.
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Foto: dpa/Ian Rutherford Mehr TV-Aufmerksam­keit: Europameis­ter Florian Wellbrock

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