Gelockt, gebraucht, gedemütigt
Menschen aus östlichen EU-Staaten sichern auch Deutschlands Sozialsysteme
Berlin. Die Einwohnerzahl der Bundesrepublik wächst. Ende 2017 betrug sie rund 82,8 Millionen. Die Statistik sagt auch: In Deutschland leben so viele EU-Ausländer wie noch nie. Seit Beginn der Freizügigkeit für Menschen aus östlichen Mitgliedsstaaten im Jahr 2007 ist deren Zahl von 919 000 auf 2,6 Millionen Ende vergangenen Jahres gewachsen. Während die gesamte Nettozuwanderung nach Deutschland – also die Differenz aus Zuzug und Wegzug – 2016 lediglich 277 000 Menschen betrug, lag sie im vergangenen Jahr bei 439 000. Vor allem Menschen aus Polen, Rumänen und Bulgarien werden direkte Nachbarn.
Glaubt man dem medialen Echo, so diskutiert derzeit ganz Deutschland über Betrugsfälle beim Kindergeld – deren Anzahl noch nicht einmal genau bekannt, wohl aber überschaubar ist. Grundsätzlich will man aus Osteuropa stammenden Beschäftigten, die hierzulande normal Steuern und Abgaben entrichten, das Kindergeld kürzen auf Heimatniveau. In Österreich ist die aus konservativer ÖVP und rechtspopulistischer FPÖ bestehende Regierung schon einen Schritt weiter. Die Absenkung des Kindergeldes auf das Niveau der Herkunftsländer ist beschlossen, demnächst soll der Gesetzentwurf im Parlament genehmigt werden. Österreich könnte womöglich als Vorbild für Deutschland dienen, wo Union und SPD ähnliche Ziele verfolgen.
Was wäre wohl, wenn man mit gleicher Energie nach Lösungen suchen würde, um Superreichen, die ihr Geld in Steueroasen verstecken, einen Riegel vor die Zellentür zu schieben?! Zugleich wäre es angebracht, wenigstens zu akzeptieren, dass die deutschen Wirtschafts- und Sozialsysteme wie die in anderen westeuropäischen Gesellschaften davon profitieren, dass Menschen ihre Heimat verlassen, um durch Arbeit die Existenz ihrer Familien zu sichern.
Laut Zukunftsforschern der UNO liegen die nach Einwohnerzahl bis 2050 am schnellsten schrumpfenden Länder ausschließlich in Osteuropa.
Die Einwohnerzahl der Bundesrepublik wächst, sie kletterte Ende 2017 auf – geschätzte – 82,8 Millionen. Das ist verbunden auch mit einem Aderlass der Staaten Osteuropas. Das Statistische Bundesamt rechnet langsam und ist vorsichtig mit Prognosen. 2017, so ist zu erfahren, lag die Bevölkerungszahl in Deutschland vermutlich bei 82,8 Millionen. Bestätigt sind Zahlen für 2016. Danach nahm die Gesamtbevölkerung Deutschlands im Vergleich zum Vorjahr um 346 000 Personen zu und lag am Jahresende bei 82,5 Millionen. 2015 hatte es sogar einen deutlich höheren Anstieg um 978 000 Menschen gegeben.
Schon sechs Jahre in Folge legt Deutschland zu. Grund für diese Entwicklung ist, dass mehr Menschen nach Deutschland kamen als abwanderten. Dieser sogenannte Wanderungssaldo lag 2017 bei mindestens 450 000 und hat so das Geburtendefizit mehr als ausgeglichen. Von den 2016 registrierten 82,5 Millionen Einwohnern besaßen 73,3 Millionen die deutsche Staatsbürgerschaft; der Anteil der Menschen mit ausländischem Pass stieg auf 11,2 Prozent.
Zwischen 2007 und 2017 ist die ausländische Bevölkerung mit der Staatsangehörigkeit eines neuen EUMitgliedstaats von 919 000 auf 2,6 Millionen gewachsen. Ein Gutteil ist in Bayern (21,0 Prozent), gefolgt von NRW (19,4 Prozent) und BadenWürttemberg (17,1 Prozent) registriert. In den neuen Bundesländern (ohne Berlin) haben Neu-EU-Bürger mit 26,0 Prozent einen deutlich höheren Anteil als jene aus den alten EUStaaten ( 7,8 Prozent).
Mit solchen Zahlen liegt Deutschland durchaus im Trend der west- und nordeuropäischen Staaten. Während dort die meisten Gesellschaften wuchsen, sind fast alle Bevölkerungen im Baltikum, auf dem Balkan und in den anderen einstigen sozialistischen Staaten Osteuropas geschrumpft. Und das seit Ende der 1990er Jahre unaufhaltsam. Bulgarien verlor seitdem rund 19 Prozent seiner Bürger, Lettlands Bevölkerung verringerte sich sogar um 27 Prozent. Laut Zukunftsforschungen der UNO liegen die nach Einwohnerzahl bis 2050 am schnellsten schrumpfenden Länder ausschließlich in Osteuropa.
Die Abnahme im Osten ist sowohl der natürlichen Bevölkerungsent- wicklung wie der Migration geschuldet, meinen Soziologen des Wittgenstein Centre for Demography an Global Human Capital in Wien, die jüngst eine entsprechende Analyse vorgelegt haben. Danach hat beispielsweise Lettland durch die natürliche Bevölkerungsentwicklung, also das Wechselspiel von Geburtenrate und Lebenserwartung, seit 1990 zehn Prozent Miese gemacht. Die restlichen 17 Prozentpunkte des Rückgangs seien der Abwanderung geschuldet. Noch drastischer ist die Situation von Kosovo. Hier betrug die Abwanderung rund 50 Prozent. Doch sie wurde durch eine relativ hohe Geburtenrate abgefangen. So bleibt am Ende – rein statistisch – bis Ende 2017 »nur« ein Minus von sieben Prozent.
Die Ursachen für Abwanderungen sind weniger in politischen Konflikten zu suchen. Es ist vielmehr die wirtschaftliche Lage in den ex-sozialistischen Staaten, die Menschen an Emigration denken lässt. Man schaue sich das Lohngefälle zwischen Ostund Westeuropa an. Ausgangspunkt ist das Bruttomonatsgehalt, also die Gesamtbezüge vor Abzug von Steuern und dem Anteil an den Sozialversicherungsbeiträgen. Auch wenn ein Blick in Tabellen von Eurostat nur bedingt für Analysen taugt und die aktuellsten Zahlen von 2014 stammen, so wird doch das Problem deutlich. Innerhalb der EU verdienten die Dänen am meisten. Der Bruttomonatsverdienst von Vollzeitbeschäftigten liegt dort bei 4664 Euro. Es fol- gen Luxemburg mit 4246 Euro, Irland mit 4003 Euro. Deutschland liegt auf Platz sieben mit 3380 Euro. Am Schluss der Tabelle finden sich Lettland mit 812 Euro, Ungarn mit 800 Euro, Litauen mit 706 Euro, Rumänien mit 527 Euro und Bulgarien mit 436 Euro durchschnittlichem Bruttomonatslohn. Stundenlöhne in Lettland von nur 3,50 oder gar nur 2 Euro in Rumänien sind dort normal. Bulgarien trägt die rote Laterne, man rechnete 2014 mit Stundenlöhnen von knapp 1,70 Euro. Auch nachdem die Wiener Forscher diese Zahlen entsprechend der Kaufkraft bereinigt haben, steht Dänemark an erster und Bulgarien an letzter Stelle.
Kein Wunder also, dass der Drang in die reicheren Länder Westeuropa enorm ist. Seit 2004 sind 13 Länder der EU beigetreten, die Personenfreizügigkeit im Rahmen der EU-Osterweiterung hat die Migration von ärmeren osteuropäischen in reichere westeuropäische Länder zusätzlich gefördert. Als besonders krasses Beispiel verweist die Internationale Organisation für Migration (IOM) auf Lettland. Zehntausende Einwohner suchten ihr Glück vor allem in Irland und Großbritannien.
Vor allem junge Osteuropäer zwischen 18 und 30 Jahren verlassen ihre Heimat. Das bedeutet auch, dass in diesen Ländern weniger Kinder geboren werden. Um den rein zahlenmäßig zu erfassenden Aderlass aufzufangen, müsste die Geburtenrate also weit über den für den Erhalt einer Gesellschaft notwendigen 2,1 Kindern pro Frau liegen.
Doch die Realität ist zumeist eine andere. Beispiel Albanien. Hier sank die statistisch erfasste Anzahl von Kindern pro Frau zwischen 1990 und 2017 von 3 auf 1,7. In Zentraleuropa lag diese Ziffer 2016 bei 1,48, in Südosteuropa bei 1,58. Höher war die Geburtenrate 2016 in Westeuropa, sie lag bei 1,8 Kindern. Am wenigsten Nachwuchs bekommen Frauen in südeuropäischen Ländern wie Spanien und Italien.
In einigen, potenteren osteuropäischen Staaten versuchte man, mit sozialpolitischen Hilfen gegenzusteuern. Erfolge erreichte man in einem so wirtschaftlich potenten Staat wie Estland. Seit 2004 zahlt das Land Unterstützung an den Elternteil, der zur Kinderbetreuung daheim bleibt. Sie entspricht dem letzten Lohn vor der »Babypause«. Auch Teilzeit ist möglich. Doch solche Vergünstigungen sind die Ausnahme.
Im Februar 2018 veröffentlichte die EU-Kommission ihre WestbalkanStrategie. Sie will den Weg für den Beitritt weiterer Staaten frei machen. Man hat Serbien, Montenegro, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Albanien, Kosovo als künftige EU-Mitglieder im Blick. Sicher ist, dass die dann mögliche Freizügigkeit für Menschen die Abwanderung noch verstärken kann. Insbesondere dann, wenn wie in Rumänien oder Bulgarien erhofftes wirtschaftliches und damit mögliches soziales Wachstum ausbleibt. Es gibt Forscher, die meinen, dass sich im Westen die Qualifikation von Menschen und die Rückkehrfreudigkeit steigern lassen. Mehr als eine Hoffnung ist das nicht. Darüber, wie viele Osteuropäer seit 1990 in ihr Heimatland zurückgekehrt sind, gibt es keine tragfähige Statistik.