Die jungen Qualifizierten gehen, der Rest vergreist
Deutschland sucht Facharbeiter und wenn die Wirtschaft nach Ausländern ruft, werden Gesetze geändert
Union und SPD wollen bis Jahresende die Zuwanderung von Fachkräften in einem neuen Gesetz regeln. Wegen des Mangels drängt die Wirtschaft auf Tempo und unbürokratisches Vorgehen.
Lange wurde die mit der EU-Osterweiterung einhergehende Arbeitnehmerfreizügigkeit für Personen aus dem östlichen Mittel-, Südost- und Osteuropa kritisch gesehen. Noch um die Jahrtausendwende warnten namhafte Ökonomen vor dem Hintergrund einer damals ungünstigen beschäftigungspolitischen Lage vor großen Risiken für den deutschen Arbeitsmarkt und das deutsche Sozialversicherungssystem.
Natürlich konnte man die neuen EU-Mitglieder in Sachen volle Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht ewig hinhalten. Und siehe da: Zahlen der Bun- desagentur für Arbeit zeigen, dass die Integration der Zuwanderer aus den neuen EU-Mitgliedsländern in den deutschen Arbeitsmarkt gut gelungen ist. Die »Neuen« leisten einen substanziellen Beitrag zur Fachkräftesicherung in Deutschland, liest man.
Lag die Gesamtzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit der Staatsangehörigkeit eines der elf neuen EU-Länder im Januar 2010 noch bei 254 000, so waren es im Mai 2017 mit 1,14 Millionen – mehr als viermal so viele. Polen standen mit 33,2 Prozent der Beschäftigten aus den osteuropäischen EU-Ländern an der Spitze, gefolgt von Rumänien (24,9 Prozent), Kroatien (13,6 Prozent), Bulgaren (9,1 Prozent) und Ungarn (8,4 Prozent). Gleichzeitig ist die Arbeitslosenquote von osteuropäischen EU-Bürgern von 15,2 auf 8,3 Prozent gesunken.
Bei allen Problemen, die sich für die zugewanderten Arbeitskräfte und ihre Familien ergeben – viele können nur auf diese Weise halbwegs menschenwürdig überleben. Hauptprofiteur ist jedoch die deutsche Gesellschaft. Laut einer Bertelsmann-Studie aus dem Jahr 2015 braucht Deutschland pro Jahr mehr als eine halbe Million Zuwanderer, will es die Anzahl der Arbeitskräfte und sein Sozialsystem bis zum Jahr 2050 stabil halten.
Anfang 2017 arbeiteten rund 458 000 Menschen aus den elf »neuen« EU-Ländern in Fachkräftepositionen, für die man typischerweise einen beruflichen Abschluss benötigt. 42 000 Personen kamen mit einem Abschluss, der dem deutschen Meister oder Bachelor entspricht. 52 000 sind in Expertenjobs, die in der Regel ein mindestens vierjähriges Hoch- schulstudium voraussetzen, listet die Bundesagentur für Arbeit auf. Die Behörde bestätigt damit auch den fachlichen Ausverkauf der osteuropäischen EU-Staaten, die viel Geld für die Ausbildung ihres Nachwuchses eingesetzt haben und nun leer ausgehen. Zudem: Es gehen die Jungen, der zurückbleibende »Rest« veraltert.
Es gibt bestimmte Berufsgruppen, in denen in Deutschland Notstand herrscht. Selbst die Bundeswehr überlegt schon, ob sie ihre Reihen nicht mit jungen Leuten aus anderen EU-Staaten auffüllen könnte. Wesentlich prekärer als beim Militär ist die Situation bei Pflegekräften. In Deutschland fehlen bis zu 50 000. Daher will Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gezielt Fachkräfte aus dem europäischen Ausland anwerben. Schon jetzt haben 14 Prozent der stationären und 11 Pro- zent der ambulanten Pflegekräfte einen Migrationshintergrund.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will ausländischen Fachkräften mit besonders nachgefragten Berufen die Suche nach Arbeitsplätzen erleichtern. »Möglichst unbürokratische Prozesse« schweben ihm vor, etwa ein befristetes Visum für Bewerber zur Arbeitssuche. Studien belegen, dass die soziale Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt und Menschen verschiedener Herkunft gegeneinander ausgespielt werden. Bereits jetzt sind viele aus Osteuropa Eingewanderte »Arbeiter zweiter Klasse«.
Da die Besten bereits nach Westeuropa ausgewandert sind, schwächt sich die Zuwanderung aus den östlichen EU-Staaten ab. Der sogenannte Wanderungsüberschuss in die EU sank vor allem bei den polnischen und rumänischen Bewerbern.