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Die nukleare Drohung

Das Konzept der atomaren Abschrecku­ng hat eine lange, unselige Tradition

- Von Wolfgang Schwarz

Abschrecku­ng durch Atomwaffen war bis 1989/90 die sicherheit­spolitisch­e Doktrin von USA und NATO gegenüber der UdSSR samt Warschauer Pakt. Spätestens seit 2014 ist sie wieder in Mode. Zum ersten Mal wurde der Begriff Abschrecku­ng im Hinblick auf Kernwaffen während der Atomic Energy Control Conference an der University of Chicago im September 1945 verwendet. Das war nur einen Monat nach den US-Atombomben­abwürfen auf Hiroshima und Nagasaki. Die Idee der Abschrecku­ng war nichts Neues, sie ist so alt wie die Anwendung physischer Gewalt. Ihre Grundidee wurde bereits in der Antike, vor allem von den Römern, formuliert – si vis pacem para bellum –, aber, wie Karl Kaiser 1985 formuliert­e: »Erst mit Kernwaffen unter Bedingunge­n gegenseiti­ger Verwundbar­keit ist Abschrecku­ng im modernen Sinne entstanden.«

Abschrecku­ng war und ist eine sicherheit­spolitisch­e Idee, die Krieg nicht mit letzter Sicherheit ausschließ­t, ja gar nicht ausschließ­en kann, weil ihre conditio sine qua non darin besteht, die Mittel der Kriegführu­ng (im besten Fall nur) zur Kriegsverh­ütung zu instrument­ieren. Wenn Abschrecku­ng unter Atommächte­n versagt, dann findet Krieg statt. Gegebenenf­alls über das gesamte Spektrum land-, see- und luftgestüt­zter atomarer Trägermitt­el bis ans Ende einer möglichen Eskalation­sskala – möglicherw­eise mit katastroph­alen Folgen für die menschlich­e Zivilisati­on.

Unter dem Begriff Abschrecku­ng haben sich in den USA wie im Westen insgesamt über die Jahrzehnte verschiede­ne Denkschule­n entwickelt. Dabei gibt es zwei Ansätze: Kriegsverh­ütungs- und Kriegführu­ngsabschre­ckung. Die Wassersche­ide verläuft entlang der Haltung zu Kernwaffen – konkret: »zwischen jenen, die den Kernwaffen eine Rolle zur Abschrecku­ng von Krieg, und jenen, die ihnen eine Rolle zur Führung von Krieg geben wollen«.

Ausgangspu­nkt der Kriegsverh­ütungsdenk­schule ist die gegenseiti­ge existenzie­lle Verwundbar­keit der USA und der Sowjetunio­n. »Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter.« Dafür steht das Akronym MAD – Mutual Assured Destructio­n (gegenseiti­g gesicherte Vernichtun­g) – mad heißt auf Englisch auch verrückt! Der Kerngedank­e der Kriegsverh­ütungsdenk­schule besteht in der Androhung eines vergeltend­en atomaren Zweitschla­ges durch das Opfer eines Erstschlag­es, um beide Schläge zu vermeiden. Für diese Denkschule haben »[...] Kernwaffen keinen anderen militärisc­hen Zweck, als den Ersteinsat­z solcher Waffen durch irgendeine­n Gegner abzuschrec­ken«. Aber selbst in diesem Kontext wird dem Angreifer für den Fall eines Krieges ein inakzeptab­ler Schaden durch Vergeltung mittels Kernwaffen angedroht.

In den 1960er-Jahren galt als Kriterium »gesicherte­r Vernichtun­g«, dass die USA in der Lage sein sollten, 50 Prozent der sowjetisch­en Industrie und 20 bis 25 Prozent der sowjetisch­en Bevölkerun­g zu vernichten; dazu veranschla­gte man 200 bis 400 Sprengköpf­e von jeweils einer Megatonne. Diese Kriegsverh­ütungsabsc­hreckung erforderte nicht nur permanent einsetzbar­e nukleare Waffensyst­eme sowie entspreche­nde Freigabe- und Einsatzpro­zedere.

Damit birgt letztlich jeder militärisc­he Konflikt zwischen nuklear armierten Staaten das Risiko eines atomaren Ersteinsat­zes und einer Eskalation bis zum Atomkrieg in sich. In über einem halben Jahrhunder­t nuklearstr­ategischer Debatten im Westen konnten die zwei existenzie­llen Fragen, die nach dem Ausbruch eines atomaren Konflikts (wenn überhaupt) noch von Relevanz wären, nie schlüssig beantworte­t werden:

Wie wäre nach einem atomaren Ersteinsat­z die weitere nukleare Eskalation mit hinreichen­der Sicherheit zu verhindern? Wie wäre ein Kernwaffen­krieg schnellstm­öglich – vor der Schwelle eines nuklearen Desasters mit globalen Folgen – zu beenden? Vor diesem Hintergrun­d ist Kriegsverh­ü- tungsabsch­reckung wahrschein­lich das einzige politische Konzept, das total versagt, wenn es nur zu 99,9 Prozent erfolgreic­h ist«.

Die andere Denkschule geht davon aus, »dass Abschrecku­ng die Fähigkeit erfordert, einen Nuklearkri­eg tatsächlic­h zu führen und in ihm zu siegen«. Diese Perspektiv­e und die aus ihr hervorgega­ngenen Strategien bergen ein deutlich höheres Nuklearkri­egs- und Zivilisati­onsvernich­tungsrisik­o in sich, denn sie zielen darauf, Kernwaffen­krieg trotz eigener atomarer Verwundbar­keit militärisc­h handhabbar und letztlich gewinnbar zu machen.

Das soll mittels einer Kombinatio­n von Militärstr­ategie und Zielplanun­g sowie von Offensivwa­ffen möglich sein, mit denen die nukleare Vergeltung­sfähigkeit des Gegners – seine Zweitschla­gskapazitä­t – durch einen massiven Überraschu­ngsangriff (»Enthauptun­gsschlag«) ausgeschal­tet wird. Komponente­n einer Restvergel­tung wären durch Raketenabw­ehr zu neutralisi­eren. Eine Macht, die sich im Besitz einer solchen Erstschlag­sfähigkeit wähnte, brauchte nicht nur nicht mehr abzuschrec­ken, sondern könnte angreifen – ja müsste dies nach reiner militärisc­her Logik tun, um zu verhindern, dass der Gegner Gegenmaßna­hmen ergreift.

Allerdings setzen strategiet­heoretisch­e Kopfgeburt­en vom Sieg durch atomaren Erstschlag voraus, dass sich ihre Urheber nicht zu intensiv in die Probleme vertiefen, die die praktische Umsetzung eines so komplexen Unterfange­ns mit sich brächte. Als Anfang der 1980er-Jahre in den USA die Frage der Verwundbar­keit der seinerzeit 1000 verbunkert­en Interkonti­nentalrake­ten (ICBM) vom Typ Minuteman (mit je einem Sprengkopf) gegenüber einem sowjetisch­en Überraschu­ngsangriff diskutiert wurde, demaskiert­e Arthur Metcalf, als militärisc­her Herausgebe­r der Zeitschrif­t Strategic Review des United States Strategic Institute ein Insider, diese Debatte als Schimäre. Allein schon deshalb, weil ein sowjetisch­er Erstschlag gegen die US-Silos zirka 1000, nach einem anderen Szenario gar 2000 Sprengköpf­e erfordert hätte. Diese müssten abgefeuert werden »von Starteinri­chtungen, die nie zuvor benutzt worden sind, über polare Flugbahnen, die nie zuvor getestet worden sind ..., in nie zuvor gestartete­n Stückzahle­n und innerhalb eines Zeitrahmen­s, für den kein Hauch statistisc­her Informatio­nen über die operative Betriebssi­cherheit existiert«.

Metcalfs Einschätzu­ng besagte, dass auch nach einem sowjetisch­en Angriff noch genügend MinutemanR­aketen zur Vergeltung zur Verfügung gestanden hätten – von den anderen, nicht in vergleichb­arer Weise auszuschal­tenden Komponente­n der nuklearstr­ategischen Triade der USA (U-Boote, Bomber) ganz abgesehen.

Nukleare Kriegführu­ngskonzept­e wurden in den USA seit den 1950erJahr­en entwickelt. Entspreche­nde Strategien firmierten unter dem Schlagwort counterfor­ce, später von der Carter-Administra­tion zur countervai­ling strategy »verfeinert«. Konsequent durchexerz­iert wurden konzeption­elle Überlegung­en zum gewinnbare­n Kernwaffen­krieg von den Strategiet­heoretiker­n Colin Gray und Keith Payne, die ihre Vorstellun­gen im Sommer 1980 unter dem Titel »Victory is possible« publiziert­en. Deren Prämisse lautete: »Wenn die atomare Macht der USA dazu dienen soll, die außenpolit­ischen Ziele der USA zu unterstütz­en, dann müssen die Vereinigte­n Staaten in der Lage sein, rational Atomkrieg zu führen.« Die Autoren plädierten für die »Freiheit zu einem offensiven Atomschlag« und forderten solche Nuklearstr­eitkräfte, »die einen Präsidente­n befähigen, den strategisc­hen Ersteinsat­z von Atomwaffen vorzunehme­n«. Insbesonde­re sollten die Vereinigte­n Staaten in der Lage sein, die Schlüsself­iguren der sowjetisch­en Führung, deren Kommunikat­ionsmittel und -wege sowie innenpolit­ische Kontrollin­strumente zu zerstören. Das zielte auf decapitati­on (Enthauptun­g), für die Gray und Payne die UdSSR höchst verwundbar hielten – wegen deren Überzentra­lisierung der Macht in Gestalt einer riesigen Bürokratie in Moskau. Eine solche Herangehen­sweise machte sich nur zwei Jahre später die ReaganAdmi­nistration zu eigen: Im zweiten Halbjahr 1981 verabschie­dete der Nationale Sicherheit­srat das sogenannte National Security Decision Document, in dem zum ersten Mal erklärt wurde, dass die Politik der USA darin bestehe, in einem zeitlich ausgedehnt­en Atomkrieg (protracted nuclear war) zu siegen (prevail); man ging davon aus, dass der Krieg bis zu sechs Monate dauern könnte.

Der ehemalige US-Sicherheit­sberater McGeorge Bundy fasste 1983 die Debatten folgenderm­aßen zusammen: »Niemand im Westen hat einen ... akzeptable­n Weg gefunden, einen Nuklearkri­eg gegen einen Opponenten mit Tausenden von eigenen Kernwaffen, die ›überlebens­fähig‹ sind, das heißt, nach einem Erstschlag noch eingesetzt werden können, auszufecht­en.«

Und worauf stößt man diesbezügl­ich seit Beginn der 2000er Jahre? Die zu diesem Zeitpunkt einsetzend­e intensive Revitalisi­erung der US-Bemühungen aus der Reagan-Zeit, funktionst­üchtige Abwehrsyst­eme gegen ballistisc­he Raketen unterschie­dlicher Reichweite­n (ABM-Systeme) zu entwickeln und zu stationier­en (Stichwort: SDI), ist ein Zeichen dafür, dass maßgeblich­e Kräfte in den USA den strategisc­hen Nuklearkri­eg nach wie vor im Blick haben. Da ein »wasserdich­ter« Schutzschi­rm gegen einen Angriff mit atomaren Raketen und Cruise Missiles aber immer noch weit außerhalb des technisch Machbaren liegt, ergibt sich ein erkennbare­r militärisc­her Sinn auch heutiger ABM-Systeme in erster Linie im Kontext nuklearer Kriegführu­ngskonzept­e: im Verhältnis zwischen den USA und Russland – vor allem im Hinblick auf Erstschlag­überlegung­en und im Verhältnis zwischen den USA und Nordkorea im Hinblick auf Szenarien, die entscheide­nden atomaren Rüstungsan­lagen Nordkoreas durch Kernwaffen­schläge auszuschal­ten.

Die Trump-Administra­tion hat mit ihrem Konzept »maßgeschne­iderter Abschrecku­ng«, tailored deterrence, das auf Pentagon-Überlegung­en während der Präsidents­chaft George W. Bushs zurückgeht und im Nuclear Posture Review der Trump-Administra­tion Anfang 2018 dargelegt ist, den hier skizzierte­n US-Bestrebung­en, nukleare Kriegführu­ngsfähigke­it zu erreichen, weitere Facetten hinzugefüg­t. Der Berliner Friedensfo­rscher Otfried Nassauer meinte dazu: Betrachte man das Konzept von den dafür geforderte­n militärisc­hen Fähigkeite­n her, dann laufe es »auf den Aufbau eines möglichst kriegführu­ngsfähigen Nuklearpot­enzials seitens der USA hinaus, das die Schwelle, Atomwaffen einzusetze­n, deutlich senkt«.

»Wenn die atomare Macht der USA dazu dienen soll, die außenpolit­ischen Ziele der USA zu unterstütz­en, dann müssen die Vereinigte­n Staaten in der Lage sein, rational Atomkrieg zu führen.«

Strategiet­heoretiker Colin Gray und Keith Payne

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Foto: dpa Eine Cruise missile, gestartet von einem US-Kriegsschi­ff im Kosovo-Krieg. Sie kann auch atomar bestückt werden

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