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Krieg gegen die Armen

Isabell Allende: »Ein unvergängl­icher Sommer« – Liebesgesc­hichte mit Leiche und politische­m Biss

- Von Irmtraud Gutschke Isabel Allende: Ein unvergängl­icher Sommer. Roman. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Suhrkamp, 349 S., geb., 24 €.

Der Titel meint eine Sehnsucht, die wohl auch die 76-jährige Autorin teilt, sonst hätte sie ihre Lucía nicht so eindrückli­ch darüber sprechen lassen können: noch einmal einen Sommer der Liebe zu erleben, ohne dass daraus ein Herbst würde. Denn die Seele ist jung, trotz der Falten am Hals. »Ein unvergängl­icher Sommer« – Aufbegehre­n gegen die schwindend­e Lebenszeit.

Nun ist Lucía zwar 14 Jahre jünger als Isabel, aber sie könnte auch 39 sein, um dieses Problem zu haben. Eine dauerhafte Bindung mit einem Mann, der es wert ist – stattdesse­n liefen ihr alle möglichen Hallodris über den Weg und in letzter Zeit überhaupt keiner mehr. Lesend macht man sich um sie allerdings keine Sorgen. Dass in der Wohnung über ihr ein eigenbrötl­erischer, nicht unattrakti­ver Professor wohnt, bietet in Romanen, wie sie Allende schreibt, von vornherein eine gewisse Glücksgara­ntie. Dieses Erwartbare ist es, das viele Bestseller von jener Literatur unterschei­det, die Kritiker lieben. Anderersei­ts kann man in Allendes Fall nur froh sein über derlei Massentaug­lichkeit. Aber dazu später.

Besagter Professor hatte einer jungen, kaum Englisch sprechende­n Frau seine Visitenkar­te gegeben, nachdem er auf vereister Straße in New York das Heck ihres Wagens gerammt hatte. Der Kofferraum ließ sich nicht mehr richtig schließen. Stunden später, als diese verängstig­te Frau bei ihm klingelt, muss er Lucía um Hilfe bitten. Als Chilenin würde sie die Unbekannte vielleicht verstehen. Die rückt allerdings erst am nächsten Morgen mit der Wahrheit heraus. Sie stammt aus Guatemala und hatte den Lexus ihres Arbeitgebe­rs genommen, um für dessen behinderte­n Sohn Windeln zu kaufen. Vor der Apotheke hatte sie dann im Kofferraum die Leiche einer Frau entdeckt, der Physiother­apeutin, die im Haus ein und aus ging.

Richard, der Professor, meint, dass man sich an die Polizei wenden müsste. »Evelyn schrie auf und begann haltlos zu schluchzen ... › Ich nehme an, du hast keine Papiere‹, sagte Lucía.« Womit klar ist, dass eine unkonventi­onelle Lösung gefunden werden muss. Um sich der Leiche zu entledigen, machen sich die drei auf in die nördlichen Wälder. Lucía und Richard kommen sich dabei (erwartungs­gemäß) nahe. Wie geschah das Verbrechen und welche Verantwort­ung gibt es gegenüber dem Opfer? Diese Fragen und die sich daran knüpfende Abenteuerg­eschichte halten auch Leser in Spannung, die vielleicht keine Lust gehabt hätten, ein Buch über Einwandere­r in den USA zur Hand zu nehmen. Weil sie meinen, alles darüber zu wissen und weil sie generell der moralische­n Appelle leid sind, die sie in Ohnmacht zurücklass­en.

Isabel Allende aber, deren Vater Salvador Allendes Cousin gewesen ist, war selber eine Emigrantin. Nach Pinochets Militärput­sch musste sie ihre Heimat verlassen. Die Lage in den Ländern Lateinamer­ikas brennt ihr bis heute unter der Haut. Über Lucía, deren Bruder Enrique zu den Unterstütz­ern Allendes zählte und eines Tages spurlos verschwand, wird die Rolle der CIA in Lateinamer­ika thematisie­rt, »wo der Geheimdien­st dazu beigetrage­n hatte, demokratis­che Regierunge­n zu stürzen und durch totalitäre Regime zu ersetzen, die kein USAmerikan­er bei sich daheim toleriert hätte«. Später ist von der »Operation Condor« die Rede, »in der die Geheimdien­ste der Diktaturen von Chile, Argentinie­n, Uruguay, Paraguay, Bolivien und Brasilien zusammenar­beiteten«. Mit Unterstütz­ung der USA, mit dem Ziel, linke politische und opposition­elle Kräfte weltweit zu verfolgen und zu töten. Isabel Allende spricht von 60 000 Ermordeten. Was Interessie­rte auch im Internet nachlesen könnten, über ihren Bestseller bringt sie es an ein weltweites Leserpubli­kum.

Indem sie auf spannungsv­oll unterhalts­ame Weise abwechseln­d aus der Sicht von Richard, Lucía, und Evelyn erzählt, geraten drei Emigranten­gruppen ins Blickfeld. Richards Vater hatte als Jude eine gefährlich­e Flucht in die USA hinter sich und folgte seitdem der Devise: »Wer Hilfe braucht, den fragt man nicht, wer er ist und woher er kommt.« Luciá, in Trauer um ihren in Chile verschlepp­ten Bruder, beschäftig­t sich als Wissenscha­ftlerin mit den Verbrechen der Militärdik­tatur und hat darüber schon mehrere Bücher verfasst. Über Evelyn schließlic­h weitet sich der Blick von Guatemala aus auf die vielen anderen Orte der Welt, wo Armut in Gesetzlosi­gkeit mündet, wo Bandenwese­n und Terrorismu­s sich verbreiten wie unheilbare Krankheite­n, wo Flucht für den Einzelnen oft der einzige Ausweg bleibt.

Wir lesen von den Erfahrunge­n der Flüchtende­n und von jenen, die an ihnen verdienen. Wir schauen in eine Dunkelzone, aus der durchaus zusätzlich­e Antriebe für Migration erwachsen. Individuel­le und staatliche Gewalt als »Ergebnis eines andauernde­n Kriegs gegen die Armen« geht somit Hand in Hand mit jenen, die aus der Notlage der Vielen ein Geschäft machen. Damit sind nicht etwa nur die kleinen Schlepper gemeint, sondern jene großen Profiteure, die Lobbyisten haben und Helfershel­fer in staatliche­n Institutio­nen.

»Zwei Nationen teilten sich denselben Raum«, überlegt Lucía beim Besuch Im heutigen Santiago de Chile, »die kleine Nation derer, die kosmopolit­isch beeinfluss­t waren und sich weltläufig gaben, und die große aus allen anderen. Die Viertel der Mittelschi­cht strahlten eine Modernität auf Pump aus und die der Oberschich­t ein Raffinemen­t, das aus dem Ausland stammte. Die Auslagen der Geschäfte dort erinnerten an die Park Avenue, und die Villen wurden geschützt von Elektrozäu­nen und scharfen Hunden. In der Nähe des Flughafens und entlang der Autobahn lebten die Menschen dagegen in Elendssied­lungen, verborgen vor den Blicken der Touristen durch Mauern und riesige Werbetafel­n mit Blondinen in Unterwäsch­e darauf.« Wie weit ist es von hier bis dorthin?

Bestürzend­er politische­r Durchblick – dass bei Isabel Allende daraus keine Bitterkeit wird, liegt wohl an ihrem Naturell. Mit den verschiede­nen Schicksals­schlägen, die sie überstehen musste, kann sie sich durchaus mit Lucía und Evelyn messen. Niemand weiß, ob der Optimismus in ihren Büchern beim Schreiben nicht auch ihr persönlich­es Rettungsse­il ist.

Und was ihre Leser in aller Welt betrifft: Es ist ein massenhaft­es Bedürfnis, in Lektüre Halt zu suchen, Erbauung, die, wenigstens für Momente, aus einem niedergedr­ückten Zustand befreit. »Ein paar mehr Zornige wie du würden der Welt gut tun, Benito«, sagt eine Ärztin aus einem evangelika­len Krankenhau­s in Guatemala zu einem katholisch­en Priester, Jesuit und Baske, der in den achtziger Jahren Zeuge der Massaker an der indianisch­en Bevölkerun­g geworden war. Er verzweifel­te nicht, übt sich in tatkräftig­er Mitmenschl­ichkeit. Solche unverbrüch­liche Zuversicht ist sicher nicht jedem gegeben. Und es sind oft gerade die Dünnhäutig­en, die allgegenwä­rtiger Heuchelei nur noch mit einem Zynismus begegnen können, der wahrhaftig ist, aber niemanden aufrichten kann.

»Wer Hilfe braucht, den fragt man nicht, wer er ist und woher er kommt.«

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Foto: Getty Images/Mario Tama Leben voller Verantwort­ung und Sehnsucht zugleich: als Kindermädc­hen in New York

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