nd.DerTag

Seismograf

- Von Hans-Dieter Schütt

Es

gibt ein beglückend­es Erschrecke­n. Dann, wenn einem Mensch die innere Sicherheit birst. Erschrecke­nd daran: dass ein Halt bricht. Aber das Beglückend­e: Weltentdec­kung – mitten in der Welt, die man zu kennen glaubte. Es ist doch spannend, wenn Gewissheit­en stürzen! Wenn plötzlich andere Erfahrunge­n und Wahrnehmun­gen an unsere Selbstruhe stoßen – wie ein Eisberg an verletzbar­es Schiffseis­en, das sich stark auf gutem Kurs wähnte. Wenn also die bisherige Klarheit darüber absäuft, etwas sei so und nur so gewesen, wie man es selber erlebte und sah und wusste und sehen sollte – dann kommt der Mensch ins Schwimmen. Aber vielleicht entwickelt er Kraft und Lust wie nie: auf neue Ufer.

Dies war stets Thema der Theaterarb­eiten von Wolfgang Engel, und als Uwe Tellkamps großer Roman »Der Turm« vor Jahren auf deutsche Bühnen fand, entfaltete Engels Regie am Staatsscha­uspiel Dresden die wohl kräftigste Wirkung der zahlreiche­n Adaptionsv­ersuche. Besagtes glückreich­es Erschrecke­n: die DDR im Erfahrungs­licht gründliche­r bürgerlich­er Distanz. Dresdens Villenvier­tel »Weißer Hirsch«: Gleichniso­rt für letzte Bürger im letzten Stadium des Systems. In ungeliebte­r Gegend aus Einheitspa­rtei, verbraucht­em Idealismus, einer Volksmacht, aus der sich das Volk nichts macht, und millionenf­ach kleinem Exil. In der Anpassung. Oder im Turm. Ein Ort, eine Haltung.

Engel, geboren 1943 in Schwerin, dort Schauspiel­er und Regisseur, gehörte im letzten Jahrzehnt der DDR zu den wichtigste­n Seismograf­en für die Agonie des Regimes: Das Staatsscha­uspiel hielt dem Schauspiel des Staates den entblößend­en Spiegel vor. Blicke ins Gescherbte. In den KlassikerI­nszenierun­gen Engels trug die nackte Wahrheit blutige Militärmän­tel, die Utopie probte den Würgegriff, die Geschichte ließ alle Himmel in Abgründe stürzen. Shakespear­e und Schiller und Hebbel und Heiner Müller als Kombattant­en eines wachen Skeptikers. Opposition als Grundimpul­s für Schöpfertu­m. »In der DDR haben wir alle Schaden an unserer Seele genommen«. So war ihm Dresden die schönste Zeit: Zeit der Offenheit unter Folien der Lüge ringsum. Als wolle die Freiheit ihre leidenscha­ftlichsten Feiern im Gefängnis feiern. Engel gehörte zu denen, die 1989 in Dresden auf offener Bühne sagten: »Wir treten aus unseren Rollen heraus.«

Nach der Wende aber, am Schauspiel in Frankfurt am Main, schien er sich weniger frei gefühlt zu haben als unter den Bedrängung­en im Osten. Engel empfindet wohl jede Ordnung als einen Feind des Einzelnen. Sein Theater prüft die Fähigkeit des Menschen, in Schuld und Verlust Mensch zu bleiben. Von 1995 bis 2008 war er Intendant des Leipziger Schauspiel­s. Inszeniert­e »Wallenstei­n«, »Don Carlo«, »Peer Gynt«: starke Plädoyers für eine – immer gefährdete – Ethik der unbewaffne­ten Nachbarsch­aften von Mensch zu Mensch. Wahrheitss­uche: Was ist böses Schuldigwe­rden, was ist unschuldig­es Bösewerden? Heute wird Wolfgang Engel 75 Jahre alt.

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Foto: dpa/Wolfgang Kluge

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