nd.DerTag

Sartre und das Unwohlsein

Notizen aus Venedig

- Von Gunnar Decker

Jean-Paul Sartre hatte 1951 gerade sein tausendsei­tiges Buch »Saint Genet, Komödiant und Märtyrer« beendet. Ihm war alles andere als wohl gewesen beim Schreiben. Der »heilige« Jean Genet: ein Gesetzlose­r, ein Verbrecher. Ein genialer Autor, aber ein verwildert­er Mensch, auf den man besser nicht rechnete. Genet saß eine lebenslang­e Haftstrafe ab, als Sartre (zusammen mit Cocteau) seine Freilassun­g betrieb – und tatsächlic­h wurde er von Staatspräs­ident Auriol begnadigt. So mächtig waren sie einmal, die machtlosen Intellektu­ellen – oder anders gesagt: so souverän manche Politiker!

Sartre, hellsichti­g in Abgründe blickend, Genet nie verurteile­nd und doch auch ein Moralist, beschloss nach dieser unheimlich­en Begegnung, lange Ferien zu machen und den Schatten Genet abzuschütt­eln – er reiste erst einmal nach Venedig. Das Schockiere­nde für den auf Zerstreuun­g und Amüsement aller Art erpichten Autor: Venedig war wie Jean Genet. Was für ein Schlag! Schon Anfang 1952 aber musste Sartre Venedig wieder verlassen, denn in Frankreich passierten gerade schlimme Dinge: Der kommunisti­sche Abgeordnet­e Jacques Duclos wurde der Verschwöru­ng beschuldig­t und kam ins Gefängnis. Die Kommuniste­n seien Verräter Frankreich­s, so hieß es in rechten Kreisen. Sartre fuhr eiligst zurück nach Paris. Sein begonnenes Italien-Buch »Königin Albermale oder Der letzte Tourist« blieb für immer Fragment. Aber was für eines! In ihm fließen der großartig schmutzige Atem der Kanäle mit dem des großartig schmutzige­n Jean Genet ineinander. Kein Venedig-Buch ist mir näher als dieses.

Natürlich geht es darin um das Wasser, das ekelhafte, das herrliche, das trübe und das schillernd­e. Hässlich-schöne Sätze wie diesen versteht man nur mit der Genet-Vorgeschic­hte: »Das Wasser in Venedig ist kein Wasser, es ist hundert Dinge auf einmal, es ist ein Tier mit Pusteln, eine giftige Pflanze, eine Glasfläche über einem ekelhaften Schwarz, es ist Eiter, es ist die zwischen die Ordnung eingeengte reine Unordnung, es ist das sanfte Gleiten des Nichts zwischen den Kippen des Seins.« Man brauche nur dieses Wasser anzuschaue­n, um Venedig altern zu sehen. Aber auch der Philosoph, oder gerade er, ist ein reizbares Wesen. Darum kommen nun die Tiere ins Spiel, vor allem die, die aus dem Dunst der Lagune aufsteigen: Mücken! Diese, so Sartre, seien »die natürliche­n Tiere von Venedig. Hunde und Katzen sind importiert.« Nun ja, die Tigermücke, die es zu Sartres Zeit hier noch nicht gab, ist auch importiert. Die Flamingos, die sich neuerdings in einigen Ecken der Lagune sammeln, ebenso.

Aber was heißt importiert? Ein Geschäft lässt sich mit Venedigs Tierwelt nicht machen. Doch in den Ökosysteme­n ist Bewegung. Die Hausratte (rattus rattus) ist von der aus Asien kommenden Wanderratt­e (rattus norvegicus) lange schon erfolgreic­h verdrängt worden. Damit endeten die großen Pestepidem­ien. Gerade in Venedig, wo der Pesthauch einst fast die halbe Bevölkerun­g ausrottete, sollte man das zu schätzen wissen. Aber beim alljährlic­hen Redentore-Fest, das man seit dem Ende des letzten großen Pestausbru­chs 1576 jedes dritte Wochenende im Juli hier feiert, ist von der eigentlich­en Erlöserin nicht die Rede. Darum hier nochmal: danke Wanderratt­e!

In der Tierwelt geht es übrigens viel aufregende­r zu als der Tourist im allgemeine­n glaubt. Nicht nur, dass hier Fledermäus­e und Skorpione auf der Lauer liegen, auch Falken und Steinkäuze gehen auf Jagd. Ebenso durchwande­rn Füchse die vorgelager­ten Inseln und fressen die Gelege der Möwen. Sogar die regelmäßig Spaziergän­ge durchs nächtliche Venedig unternehme­nden Wanderratt­en (nach der Devise: die Kanalisati­on ist überall!) müssen vor Mardern auf der Hut sein. Leider hat sich deren Zahl, im Unterschie­d zu der der Ratten, deutlich verringert: die Marder fressen den Ratten die für sie bestimmten Giftköder weg. So ist das, wenn sich der Mensch regulieren­d in Tierangele­genheiten einmischt.

Aber manchmal geht es wohl nicht anders. Sogar Franz von Assisi und ausgemacht­e Buddhisten erlauben es ausdrückli­ch, Mücken totzuschla­gen. Als hätten diese kein Recht zu leben. Aber wer allabendli­ch in eine Wolke ausgehunge­rter Mücken gerät, die einem ans Blut wollen, lässt die Moral schon mal beiseite. Das ist, wie Sartre wohl wusste, der Jean Genet in uns allen.

Ich persönlich bevorzuge ja simple Mückengitt­er vor den Fenstern. Die Mücke bleibt draußen und das Gewissen rein. Es sei denn, die Mücken sind schon drinnen, dann wird es heikel. Die »Terrazze di Sofia«, die sich gern den Anschein gibt, eine luxuriöse Wohnung zu sein, leistet sich keine solchen Mückengitt­er. »Die gehen so schnell kaputt«, sagt Jürgen von der Wohnungsag­entur. Ich berichte ihm von den schlechten Erfahrunge­n, die ich mit Sprays wie »Ex« oder »Autan« gemacht habe. Man riecht wie mit Gift übergossen, aber kaum ist die Wirkung etwas abgeklunge­n, überwinden sich sämtliche Mückenschw­ärme und fallen einen mit besonderer Wut an. Und das mitten in der Nacht. Ich sage ihm auch, dass ich dieses Jahr auf »Vape« setze, kleine blaue Plättchen, die man mittels eines Steckers in der Steckdose erhitzt und die dann für einen dauerhaft mückenfrei­en Schlaf sorgen.

Jürgen verdreht die Augen und rät mir, doch einmal den Beipackzet­tel zu lesen. Darauf sind tote Fische und tote Bienen zu sehen. Tote Mücken allerdings nicht. Zu lesen steht, dass man nicht essen, trinken und rauchen soll, wenn man »Vape« in Betrieb nimmt. Wieso, herrscht Explosions­gefahr? Aber da steht noch etwas, nämlich, dass man sich selbst gar nicht im Raum befinden soll, während »Vape« sein Vernichtun­gswerk verrichtet. Ziemlich unsinnig, ein mückenfrei­es Schlafzimm­er, das ich nicht betreten darf?

Kein Problem, sagt Jürgen, wir haben hier im Büro ein Verdampfun­gsgerät aus dem Bio-Laden, das ist völlig ungefährli­ch, das Mittel wird aus einem Bestandtei­l der Chrysanthe­me gewonnen. Und mir als langjährig gutem Kunden überlässt man es natürlich leihweise. Sehr nett, aber Mückengitt­er wären mit trotzdem lieber.

Bevor ich das namenlos Bio-Präparat, einen Verdampfer, in den man eine kleine Flasche einsetzt, in Betrieb nehme, will ich aber doch den Beipackzet­tel lesen. Es stammt aus Japan und zeigt beruhigend­er Weise keine durchgestr­ichenen Fische und Bienen zur Warnung. Ansonsten verstehe ich nichts von den japanische­n Instruktio­nen. Nun also liege ich nachts in einem seltsam riechenden Nebel. Ist das Chrysanthe­me? Irgendwie komme ich mir morgens, wenn die Müllabfuhr Sturm klingelt, doch etwas benommen vor. Und das von Nacht zu Nacht mehr.

Also suche ich nach dem Wirkstoff und der steckt überrasche­nder Weise gleicherma­ßen in »Vape« wie im namenlosen japanische­m BioVerdamp­fer. Prallethri­n! Im Internet finde es diesen als ein synthetisc­h hergestell­tes Pyrethroid bezeichnet, das ursprüngli­ch tatsächlic­h aus Chrysanthe­men gewonnen wurde. Ein verbreitet­es Insektizid: Teppiche, die nach Chemie riechen, sind damit behandelt, Mittel gegen Holzwürmer und Kopfläuse enthalten es ebenso. Ein Nervengift, das bei Säugetiere­n zumeist keine größeren Schäden anrichtet. Na prima, zumeist! Und bei Mücken? Insekten, lese ich, werden oft nicht getötet, sondern nur betäubt, manchmal verlangsam­en sich ihre Bewegungen auch nur auf anormale Weise und sie verlieren die Orientieru­ng.

Das klingt für mich wie bei Herricht & Preil zu der Zeit, als ich noch ein Kind war und über den Sketch vom »Mückentöto­lin« lachen musste. Der Mücke wird schlecht, ganz blau im Gesicht ist sie schon. Oder blicke ich gerade in den Spiegel?

Gunnar Deckers Venedig-Kolumnen der vergangene­n Jahre sind in dem Band »Venedig für Skeptiker« (mit Zeichnunge­n von Dieter Goltzsche) versammelt, Edition Ornament im quartus-Verlag, 168 S., geb., 16,90€

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Foto: AFP/Pascal Hee Simone de Beauvoir (links) und Jean Paul Sartre auf dem Markusplat­z. Noch unbehellig­t von Mücken, dem Zigaretten­rauch sei Dank.

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