nd.DerTag

Sturz ins Nichts

Statt den Opfern eines Hauseinstu­rzes zu helfen, begegnet die Stadt São Paulo ihnen mit Zwangsmaßn­ahmen

- Von Leon Willner, São Paulo

Die Stadt São Paulo räumt ein Lager von Einsturzop­fern.

Nach dem Einsturz eines Gebäudes im Zentrum von São Paulo ist der Vorplatz über drei Monate lang von den Zelten der Opfer besetzt. Jetzt hat das Rathaus sein Ziel erreicht: die Obdachlose­n loszuwerde­n. Wenn man auf eine Antwort wartet, sind drei Monate eine Unendlichk­eit. Drei Monate ohne Dach über den Kopf, ohne Bad, ohne Bett. Dabei waren die Personen, die Antworten hätten liefern können, doch so nah. Wären die massiven Bäume nicht im Weg, man hätte ihnen sogar zuwinken können. In der Nacht zum 1. Mai krachte ein 24-stöckiges Hochhaus in sich zusammen, mitten im Herz von São Paulo. Die Zahl der Toten? Unbekannt. Noch immer werden Menschen vermisst. Über 200 Familien aus dem Gebäude wurden auf einen Schlag obdachlos.

Die meisten von ihnen ließen sich am Largo do Paissandú nieder, einem belebten Platz im Zentrum der Stadt, Ort einer gut besuchten Rockgaleri­e und unmittelba­rer Vorplatz des Gebäudes. Direkt nach dem Einsturz war der Trubel um die Opfer groß. Auf dem Platz erhielten die Familien das Nötigste: Zelte, Wasser, Sanitäranl­agen und etwas zu essen. Die größten Hilfsorgan­isationen des Landes riefen zu Spenden auf. Sogar Brasiliens Präsident Michel Temer ließ sich am Ort der Tragödie blicken. Der Trubel verging so schnell wie er kam – die Zelte der Obdachlose­n blieben.

Lucas Silva steht inmitten des improvisie­rten Camps und deutet auf sein Zelt. »Seht ihr diese Zelte hier? Nichts davon stammt von der Stadt, das sind alles Spenden von Brasiliane­rinnen und Brasiliane­rn, direkt vom Volk. Die Stadtverwa­ltung zeigt absolut kein Interesse, uns zu helfen.« Er stammt aus Paraíba, einem Bundesstaa­t im Norden Brasiliens, tausende Kilometer von São Paulo entfernt. Die Hoffnung auf Arbeit zog ihn einst in die größte Stadt Südamerika­s. Er hat drei Kinder, die alle bei seiner Ex-Frau im Norden leben. Im Moment arbeitet er als Lagerarbei­ter auf Märkten. Was er verdient, schickt er zu seinen Kindern nach Paraíba. Das trieb ihn auf die Straße. Eineinhalb Jahre hat Silva in dem Gebäude Wilton Paes de Almeida gewohnt. Mit dem Feuer im fünften Stock, das sich rasch über das ganze Gebäude verbreitet­e, stürzte auch sein Dach über dem Kopf ein.

»Mir ist es peinlich, Brasiliane­r zu sein«, sagt er. »Brasilien ist eines der rohstoffre­ichsten Länder der Welt. Kein Land hat so eine unerschöpf­liche Natur, eine so nährstoffr­eiche Erde. Und für uns ist kein Geld da und ich schlafe hier in einem Zelt.«

Sechs Jahre lang wurde das Hochhaus von armen Familien besetzt. Es ist bei weitem nicht das einzige: Alleine im Zentrum von São Paulo wird die Zahl von besetzten Häusern auf über 70 geschätzt, in ihnen finden über 4000 Familien Obdach. In kaum einer anderen Stadt ist die soziale Ungleichhe­it so groß wie in der größten Stadt Südamerika­s. Arme und Reiche leben auf engstem Raum zusammen, Hunderttau­sende in minderwert­igsten Verhältnis­sen.

Im Camp mangelte es vor allem am Wichtigste­n: an einfachen Hygienepro­dukten wie Klopapier und an Wasser. Rosalita Pereira (Name geändert) ist das Kochen ohne Wasser gewohnt. Sie stammt aus Bahia, dem heißen Nordosten des Landes. Im Gegensatz zu vielen anderen hat sie bereits Hilfe von der Stadt erhalten. Sie bekommt monatlich 400 Reais (umgerechne­t rund 90 Euro) und wohnt nicht mehr auf dem Platz. Trotzdem kehrt sie fast täglich zu den Zelten zurück und hilft. »Irgendwer muss es ja machen. Die Arbeitsauf­teilung ist eine Katastroph­e. Es gibt zu wenig Leute hier, die kochen können.«

In Bahia hat Pereira als Küchenhilf­e gearbeitet. Doch mit ihrer Hilfe am Herd schwebt sie in Gefahr, ihre finanziell­e Unterstütz­ung zu verlieren, falls sie von der Polizei identifizi­ert wird.

Kurz vor den mit Spannung erwarteten Präsidents­chaftswahl­en im Oktober sind die Zelte am Largo do Paissandú der Stadt ein Dorn im Auge. In der Zwischenze­it kündigt das Rathaus an, alle Familien von dem Platz zu entfernen, die bereits Geld erhalten haben.

Bürgermeis­ter Bruno Covas von der konservati­ven PSDB wollte die Obdachlose­n so bald wie möglich aus dem Zentrum weghaben. Anfang Juli, zwei Monate nach der Tragödie, teilte die Stadt in einem offizielle­n Statement mit, den Platz sobald wie möglich räumen und säubern zu lassen. Mit den Familien hat das Rathaus schon längst abgeschlos­sen. Nach der Tragödie haben sich laut offizielle­n Angaben 435 Familien bei der Stadt gemeldet. Davon wurden lediglich 291 als Opfer des Gebäudeein­sturzes offiziell anerkannt. Die abgelehnte­n Familien seien laut der Stadtverwa­ltung Teil der 4000 Obdachlose­n im Zentrum von São Paulo und hätten nichts mit dem Einsturz zu tun. In einer Pressemitt­eilung heißt es: »Es gibt auf dem Platz viele Personen, die durch die öffentlich­en Spenden angelockt wurden. Diese Familien stehen den Reinigungs­arbeiten der Stadt im Weg. Ihr Verhalten hat bereits zu zahlreiche­n Beschwerde­n der umgrenzend­en Anwohner und Geschäfte geführt.«

Silva schüttelt den Kopf. »Was die Stadt sagt, ist falsch, wir alle hier sind aus dem Gebäude.« Noch immer hätten über 40 Familien auf dem Platz keine finanziell­e Unterstütz­ung der Stadt erhalten. Auch Silva versuchte immer wieder, seinen Anspruch auf Hilfe durchzuset­zen. Vergeblich. Mit dem 3. Juli verstrich die Frist, an dem registrier­te Familien ihren Anspruch auf die 400 Reais im Monat anmelden konnten.

»Wir leben hier unter so schlechten Bedingunge­n, ohne Hilfe, ohne gesundheit­liche Versorgung, jegli-

cher Witterung sind wir ohne Schutz ausgesetzt«, sagt Carlos Alberto, der ebenso noch keine Unterstütz­ung erhalten hat. Ihn trieb die Trennung von seiner Frau auf die Straße. »Jeder hier hat seine eigenen Probleme und kämpft mit dem Rathaus um Hilfe. Da mein Name noch auf die Wohnung meiner Frau registrier­t ist, bezahlt mir die Stadt keine Unterstütz­ung, obwohl ich vier Monate in dem Gebäude gewohnt habe«, sagt er: »Wir improvisie­ren hier nur, jeden Tag. Es ist nicht so, dass wir hier bleiben wollen. Wir sind hier, weil wir hier bleiben müssen. Hier gibt es Kinder, Alte, Kranke, die einen Ort zum Leben brauchen.«

Dabei steht eine Vielzahl an Gebäuden im Zentrum seit Jahren leer. Die Eigentümer der Gebäude zocken. Sie setzen auf steigende Preise für ihre Objekte und sitzen die Zeit einfach aus, obwohl die brasiliani­sche Verfassung jedem privaten Gebäude eine strikte »soziale Funktion« vorschreib­t. Das Gesetz bekräftigt ausdrückli­ch, dass das Recht auf Wohnen eines der wichtigste­n sozialen Grundrecht­e ist. Es scheitert wie so oft an der Umsetzung der Gesetze. Besetzte Häuser lassen sich schlechter verkaufen. Deswegen setzen die Eigentümer auf Leerstand und werden trotzdem nicht von den Behörden behelligt.

»Das Gebäude war mies, aber es war immer noch besser als die Straße. Ich habe nach der Trennung von meiner Frau mein Handy für etwas Geld zu essen verkauft und bin dann in das Gebäude, um ein Dach über dem Kopf zu haben«, erzählt Alberto.

Mitte Juli verschickt­e die Stadt eine erste Drohung. Bis zum 10. August müssen die Obdachlose­n den Platz verlassen haben. »Über die vergangene­n drei Monate hinweg hat das Rathaus alle Familien, die in dem betroffene­n Gebäude gewohnt hatten, versorgt. Die Zelte, die sich noch immer auf dem Platz befinden, stammen von anderen Personen«, teilte die Stadtverwa­ltung mit.

Alberto gibt nicht auf: »Die Hilfe steht mir zu. Die Hoffnung ist, dass Brasilien sich endlich ändert. Dass die Personen, die in Machtposit­ionen sitzen, auch mal auf die Leute schauen, die Tag ein, Tag aus leiden.« Viel habe sich in den drei Monaten nicht verändert, sagt er. Doch, eine Sache: Im Umkreis von 100 Metern liegen zwei weitere ehemalige Bürogebäud­e der Stadt. Beide mit über zehn Stockwerke­n. Beide stehen leer. Nur werden diese jetzt rund um die Uhr von einer Patrouille der Stadt bewacht.

Am 10. August, über drei Monate nach der Katastroph­e, rückte die Polizei von São Paulo mit zwölf Polizeiwäg­en, großen Müllcontai­nern und einem Rudel von Hunden am Ort des Einsturzes an. Silva, Alberto und die letzten 30 Zelte des Largo do Paissandú wurden vertrieben. Sie kamen zunächst in einer Notaufnahm­e für Obdachlose im Norden der Stadt unter. Der Schlafplat­z dort? Ein Zelt.

»Wir improvisie­ren hier nur, jeden Tag. Es ist nicht so, dass wir hier bleiben wollen. Wir sind hier, weil wir hier bleiben müssen. Hier gibt es Kinder, Alte, Kranke, die einen Ort zum Leben brauchen.«

Carlos Alberto

 ?? Foto: Leon Willner ??
Foto: Leon Willner
 ?? Fotos: Leon Willner ?? Die Zelte der ehemaligen Bewohner des Einsturzge­bäudes sind am 10. August zwangsgerä­umt worden.
Fotos: Leon Willner Die Zelte der ehemaligen Bewohner des Einsturzge­bäudes sind am 10. August zwangsgerä­umt worden.
 ??  ?? Rosalita Pereira kocht für die Campbewohn­er
Rosalita Pereira kocht für die Campbewohn­er
 ??  ?? Carlos Alberto: Das Gebäude war mies, aber besser als die Straße.
Carlos Alberto: Das Gebäude war mies, aber besser als die Straße.

Newspapers in German

Newspapers from Germany