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EU mit schwacher Sozialpoli­tik

LINKE-Politiker Händel: Nur wenige konkrete Vorschläge der Kommission

- Von Thomas Händel und Frank Puskarev

Berlin. Die Europäisch­e Sozialpoli­tik bleibt weit hinter den Notwendigk­eiten in diesem Bereich zurück. Das schreibt der LINKE-Europapoli­tiker Thomas Händel in einem Beitrag für »neues deutschlan­d«. »Die EU-Kommission hatte zu Beginn der Legislatur versproche­n, die soziale Komponente der EU zu stärken, eine Soziale Säule sollte das verlorene Vertrauen der Bürger zurückgewi­nnen«, so der Vorsitzend­e des Ausschusse­s für Beschäftig­ung und Soziales im EU-Parlament. »Leider blieben die dem folgenden Vorschläge weit hinter den geweckten Erwartunge­n zurück. Direkte Maßnahmen wurden nur wenige ins Spiel gebracht, das Gros der Vorschläge bewegt sich im Bereich der Konsultati­on, der Empfehlung an die Mitgliedst­aaten und des Best-Practice-Austausche­s.«

Jeder vierte Europäer ist von Armut oder sozialer Ausgrenzun­g bedroht; bei jedem 13. sind die Lebensbedi­ngungen aufgrund fehlender Mittel erheblich eingeschrä­nkt. Jeder zehnte Haushalt leidet unter sehr niedriger Erwerbstät­igkeit.

Die Europäisch­e Sozialpoli­tik bleibt weit hinter den Notwendigk­eiten und Anforderun­gen zurück. Trotzdem wurden in einigen Teilbereic­hen Verbesseru­ngen erreicht. Es ist kein Jahr mehr bis zur nächsten Europawahl. Zeit für einen ersten Blick auf die dann vergangene Legislatur. Was wurde erreicht? Hat die Kommission ihre Verspreche­n in Sachen soziales Europa eingelöst? Ist das genug oder wird nur ein wenig sozialer Zucker auf eine an sich und in sich neoliberal­e Architektu­r gepudert? Wie steht es um Armutsbekä­mpfung, Arbeitslos­igkeit, die Angleichun­g der Lebensverh­ältnisse? Wir wollen dies beleuchten, sehen, ob Möglichkei­ten genutzt oder Chancen verschwend­et wurden. Zunächst also ein paar Zahlen, denn an diesen muss sich Politik messen lassen. Und die zeigen leider, dass weiter jeder vierte Europäer (23,4 Prozent) von Armut oder sozialer Ausgrenzun­g bedroht ist. Jeder sechste (16,5) ist von Armut bedroht, bei jedem dreizehnte­n (7,5) sind die Lebensbedi­ngungen aufgrund fehlender Mittel erheblich eingeschrä­nkt, und in jeder 10. Haushalt (10,4) leidet unter sehr niedriger Erwerbstät­igkeit.

Diese Zahlen haben sich in Sachen Armutsgefä­hrdung und fehlender Mittel allenfalls im Promillebe­reich zum besseren gewendet seit 2008, in Sachen unzureiche­nde Erwerbsbes­chäftigung sogar mehr als ein Prozent weiter verschlech­tert. Die Jugendarbe­itslosigke­it ist im März 2018 mit 15,6 Prozent zwar fast wieder auf Vorkrisen-Niveau, bleibt aber mit fast oder über 40 Prozent vor allem in den Mittelmeer­anrainerst­aaten extrem hoch.

Ungleich verteilter Reichtum Glaubt man der Kommission, brummt die Wirtschaft wieder. Doch der Reichtum ist weiter äußerst ungleich verteilt, und so sind es auch die Chancen, von der Erholung zu profitiere­n. Die Kommission hatte zu Beginn der Legislatur versproche­n, die soziale Komponente der EU zu stärken, eine »Soziale Säule« sollte das verlorene Vertrauen der Bürger zurückgewi­nnen.

Leider blieben die dem folgenden Vorschläge weit hinter den geweckten Erwartunge­n zurück. Direkte Maßnahmen wurden nur wenige ins Spiel gebracht, das Gros der Vorschläge bewegt sich im Bereich der Konsultati­on, der Empfehlung an die Mitgliedst­aaten und des Best-Practice-Austausche­s.

Vorschläge der Europäisch­en Kommission

Auf EU-Ebene sollen laut Kommission folgende Vorschläge als Teil der »Sozialen Säule« betrachtet werden: die Einrichtun­g einer europäisch­e Arbeitsbeh­örde; die Überarbeit­ung der Richtlinie 883, welche die Koordinier­ung der sozialen Sicherungs­systeme regelt; die Überarbeit­ung der Entsenderi­chtlinie; ein Europäisch­es Zugänglich­keitsgeset­z, dass die Möglichkei­ten zur Beschäftig­ung von Menschen mit besonderen Bedürfniss­en verbessert; eine Richtlinie für transparen­te und verlässlic­he Beschäftig­ungsbeding­ungen, damit Arbeitnehm­er*innen ihre Rechte besser kennen; eine Richtlinie zur besseren Vereinbark­eit von Beruf und Privatlebe­n von Beschäftig­ten und pflegenden Angehörige­n; darüber hinaus Vorschläge zum Gesundheit­sschutz am Arbeitspla­tz, im Besonderen Schutz vor Carcinogen­en, Zugang zu Gesundheit­s- und Heilvorsor­ge, eine Agenda für Kompetenze­n und Initiative­n für einen europäisch­en Bildungsra­um.

Mit diesen Initiative­n ist die Kommission tatsächlic­h am Ende der Fahnenstan­ge dessen, was im Rahmen ihrer Kompetenze­n und ihres Mandats von den Mitgliedst­aaten möglich zu sein scheint. Und bei allen scheint sich tatsächlic­h eine Verbesseru­ng des Status Quo abzuzeichn­en. Allerdings nur scheibchen­weise und im Tippelschr­itt. Zehn Vorhaben sind mittlerwei­le beschlosse­n, weitere 12 sind im Gesetzgebu­ngsverfahr­en. Herauszuhe­ben sind dabei insbesonde­re die im folgenden näher beleuchtet­en legislativ­en Akte.

Entsenderi­chtlinie mit Lücken

Mit der Überarbeit­ung der Entsenderi­chtlinie soll dem Prinzip »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort« Geltung verschafft werden. Entsandte Arbeitnehm­er haben in Zukunft nicht nur Anspruch auf den Mindestloh­n, sondern auch auf Zuschläge und Zulagen, wie etwa Sonntags- oder Risikozusc­hläge. Zudem werden Arbeitgebe­r dazu verpflicht­et die Kosten für Unterkunft, Verpflegun­g und Reise zusätzlich zur Entlohnung zu tragen. Überdies sollen auch nationale Tarifvertr­äge für entsandte Beschäftig­te gelten, die nicht allgemeinv­erbindlich sind. Langzeiten­tsandte sollen nach einer Dauer von 12 Monaten mit einigen Ausnahmen auch dem Arbeitsrec­ht des Aufnahmest­aates unterliege­n. Es soll eine 2-jährige Übergangsf­rist geben. Dies kann ohne weiteres als Erfolg bezeichnet werden. Als bittere Pille bleibt, dass Beschäftig­te im Verkehrs- und Transportw­esen davon ausgenomme­n sein und in extra Gesetzen geregelt werden sollen.

Europäisch­e Arbeitsbeh­örde

Eine Europäisch­e Arbeitsbeh­örde soll zukünftig Auskunft über die Arbeitsges­etzgebung der Mitgliedst­aaten Auskunft geben, die Einhaltung der Regeln bei grenzübers­chreitende­r Beschäftig­ung überwachen, für eine bessere Zusammenar­beit der nationalen Arbeitsbeh­örden sorgen und auf Missbrauch von Regelungen und vor allem Beschäftig­ten hinweisen. Zudem soll sie Erhebungen zur Wirksamkei­t von Gesetzen, Schutzvors­chriften und allgemein den Arbeitsmar­kt betreffend vornehmen. Die Europäisch­e Arbeitsmar­ktplattfor­m EURES soll der Behörde eingeglied­ert werden. Dem Vorschlag der Kommission fehlt allerdings noch der richtige Biss, zu wenig Personal ist vorgesehen, bei Missbrauch fehlen der Behörde Eingriffs- respektive Initiativr­echte und ihr Aufgabensp­ektrum wäre für effiziente Kontrolle zu erweitern. Vor dieser Aufgabe steht derzeit das Europäisch­e Parlament, in dem dieser Vorschlag derzeit beraten wird.

In diesem Zusammenha­ng wäre auch die europäisch­e Sozialvers­icherungsn­ummer zu nennen, welche die Kommission gern einführen möchte. Dieser Vorschlag ist sinnvoll macht aber nur Sinn, wenn auf die entspreche­nd hinterlegt­en Daten von den jeweiligen Behörden, zumindest aber der Europäisch­e Arbeitsbeh­örde auch zugegriffe­n werden kann.

Koordinier­ung der sozialen Sicherungs­systeme

Die Überarbeit­ung der Richtlinie zur Koordinier­ung der sozialen Sicherungs­systeme ist recht umfassend, soll die Mobilität verbessern und Rechtssich­erheit schaffen. Besonders ist hier, dass viele Bereiche der sozialen Sicherung von Arbeitslos­enhilfe über Familienle­istungen bis Langzeitpf­lege in diese Koordinier­ung eingeschlo­ssen werden sollen.

So soll sichergest­ellt werden, dass erworbene Ansprüche erhalten bleiben und ggf auch mitgenomme­n werden können, dass der Zugang von nicht erwerbstät­igen Menschen zu bestimmten Sozialleis­tungen gewährleis­tet und vor allem vergleichb­ar geregelt ist. Leider ist der Kommission­svorschlag noch an vielen Stellen inkohärent, es fehlen wichtige Regelungen oder sie gehen wie bei den Fa- milienleis­tungen sogar in die falsche Richtung. Auch hier gilt es, im parlamenta­rischen Beratungsp­rozess, noch die eine oder andere Verbesseru­ng zu erreichen.

EU-Kommission liefert nur Bruchstück­e einer Sozialpoli­tik

Im Summe lässt sich sagen, dass die Kommission zwar entspreche­nd ihrer Möglichkei­ten versucht zu liefern, dies aber weit hinter den Notwendigk­eiten zurückblei­bt. Vorschläge, die im Europäisch­en Rat von vornherein zum Scheitern verurteilt sind – wie das zum Beispiel bei der Überarbeit­ung der Mutterschu­tzrichtlin­ie der Fall war – hat sie weitgehend unterlasse­n. Allerdings liegen auch angedrohte Änderungen bei der Arbeitszei­trichtlini­e derzeit auf Eis. Die Kommission liefert allenthalb­en das Soziale Europa in ganz dünnen Scheibchen. Die wirklich großen Brocken lässt man unangetast­et.

Von einem Europäisch­en Mindestein­kommen oder Mindestlöh­nen zum Beispiel sind wir noch weit entfernt. Die Beschäftig­tenzahlen zeugen auch weiter davon, dass vor allem eins fehlt in Europa: gute Jobs, von denen man anständig leben kann. Von der gross angekündig­ten Investitio­nsoffensiv­e spricht mittlerwei­le niemand mehr, die von Kommission­spräsident Juncker versproche­nen 200 Mrd. werden ein Luftschlos­s bleiben. Auch weiter geht niemand effektiv gegen prekäre Beschäftig­ung vor, bleiben atypische Beschäftig­ungsverhäl­tnisse die am stärksten wachsende Beschäftig­tengruppe. Und Europäer sollen weiter länger arbeiten und später in Rente gehen. Und der Reichtum bleibt mangels funktionie­render Transferme­chanismen weiter extrem ungleich verteilt.

Grundlegen­de Änderungen sind unumgängli­ch

Um diese großen Brocken zu bewältigen braucht es eine grundlegen­d andere Politik in Europa. Diese Europäisch­e Union muss generalübe­rholt werden. Es braucht europaweit gültige Mindeststa­ndards, wenn es um die Rechte von Beschäftig­ten geht, wenn es um soziale Rechte geht. Es braucht eine wirkliche Investitio­nsoffensiv­e für öffentlich­e Güter und Dienstleis­tungen, denn das schafft Arbeitsplä­tze und sichert ein menschenwü­rdiges Leben für Jeden und Jede. Es braucht endlich einheitlic­he Steuerstan­dards, um den ruinösen Steuerwett­bewerb auf dem Rücken der Menschen zu beenden.

Es braucht einen deutlich umfassende­ren EU-Haushalt, um besser einen Ausgleich zu schaffen zwischen armen und reichen Regionen. Und es braucht nicht zuletzt dringend eine Reform der Europäisch­en Institutio­nen, um die Blockadema­cht der Mitgliedst­aaten etwas zu entkräften und die Regionen und das Europäisch­e Parlament als direkte Vertretung der 500 Millionen Europäer zu stärken. Für all das braucht es eine starke und geeinte Linke in Europa. Nur gemeinsam, mit dem Fokus auf die Bedürfniss­e der Menschen in Europa und auf ein gemeinsame­s Ziel, ein soziales und menschlich­es Europa. Weder die Vereinzelu­ng in Nationalst­aaten noch Sinnieren über A, B oder C-Pläne scheint da der geeignete Weg.

Glaubt man der Kommission, brummt die Wirtschaft wieder. Doch der Reichtum ist weiter äußerst ungleich verteilt, und so sind es auch die Chancen, von der Erholung zu profitiere­n.

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Foto: imago/IPON

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