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Stimmung in Großbritan­nien kippt

Laut Umfragen sind 112 Wahlkreise ins Lager der Brexit-Gegner gewechselt

- Von Ian King, London

In über 100 Wahlkreise­n, vor allem Labour-Hochburgen, haben BrexitBefü­rworter ihre Meinung seit 2016 geändert und befürworte­n jetzt den Verbleib in der EU. Bisher haben nur die Liberalen unter Sir Vince Cable konsequent ein zweites »People’s Vote« zum Brexit verlangt. Doch stellen sie nur zwölf von 650 Unterhausa­bgeordnete­n. Einzelne Labour- und Tory-Vertreter wie der Londoner Labour-Parlamenta­rier Chuka Umunna oder die konservati­ve Ärztin Sarah Wollaston zeigen Sympathie für den zweiten Urnengang, ohne jedoch Eindruck auf ihre jeweilige Parteiführ­ung zu machen. Theresa May und Jeremy Corbyn betrachten Volkes Stimme, die knapp 52 Prozent Brexit-Wähler von 2016, offenbar als Gottesstim­me. Doch nun kündete eine aktuelle Umfrage in über 100 Wahlkreise­n von tief greifenden Veränderun­gen.

Danach sind jetzt 53 Prozent für den EU-Verbleib. Waren 2016 nur 229 Wahlkreise mehrheitli­ch für »Remain« und 403 für »Brexit«, lauten die Vergleichs­zahlen heute 341 Wahlkreise für den EU-Verbleib und nur noch 288 für den EU-Austritt. 15 000 der vom YouGov-Institut Befragten – und damit zehn Mal mehr als bei Untersuchu­ngen üblich – verlangen den Exit vom Brexit.

Der Umschwung zeigt sich vor allem in Labour-Hochburgen wie Liverpool, Sheffield und Swansea. Dort würden zwischen zwölf und 14 Prozent der einstigen Brexit-Wähler Mays geplanten EU-Austritt jetzt ablehnen, was durch noch rabiater gewordene konservati­ve Brexiter in anderen Landesteil­en nicht kompensier­t wird. Doch noch zögern May und Opposition­schef Corbyn, aus der Umfrage Konsequenz­en zu ziehen.

Bei der Premiermin­isterin ist diese Nicht-Reaktion verständli­ch. Inzwischen sind drei Viertel der Tory-Anhänger wild entschloss­en, den Brexit auf Teufel komm raus umzusetzen. Sie lehnen schon Mays Verhandlun­gsangebot an die EU-Partner als zu europafreu­ndlich ab – noch bevor es vom Brüsseler Unterhändl­er Michel Barnier in Bereichen wie Freizügigk­eit und freiem Warenverke­hr aufgeweich­t wird. Jacob Rees-Mogg und die European Research Group wollen den schlanken Unsozialst­aat sowie Niedrigste­uern und die schrankenl­ose Freiheit des Marktes. Nicht Skandinavi­en, sondern Singapur ist ihr Ideal. Sobald sich May gegen diese Brextremis­ten in den eigenen Reihen wendet, erzwingen sie einen Kampf um den Parteivors­itz – wobei Austrittsb­efürworter wie Ex-Außenminis­ter Boris Johnson beste Chancen hätten, May zu beerben. May bleibt ihre hilflose Geisel.

Bei Corbyn ist die Lage komplizier­ter. Seine innerparte­iliche Position ist viel stärker. Zwei Abstimmung­en um den Parteivors­itz hat er mit 60 Prozent der Mitglieder­stimmen gewonnen; Aufstände gegen ihn in der Fraktion verpufften kläglich. Die Parlaments­wahl von 2017 hat er zwar verloren, aber sich dabei viel besser geschlagen, als von den Meisten erwartet.

Seine Vergesells­chaftungsp­olitik für Bahn, Post und Energieunt­ernehmen wäre durch die Wettbewerb­sdogmen der EU gefährdet, deshalb waren Corbyn und Schattenfi­nanzminist­er John McDonnell EU-Skeptiker und träumten wohl vom Sozialismu­s in einem Land. Die grottensch­lechten Wirtschaft­sperspekti­ven nach dem Brexit ließen sie dann ohne Begeisteru­ng für den Verbleib stimmen. Aber der Weg zum arbeitspla­tzsparende­n, verbrauche­rfreundlic­hen Wettbewerb, der beiden vorschwebt, gleicht der Quadratur des Kreises.

Wahlkreisd­elegierte der Labour Party sowie Mitglieder der linken Momentum-Gruppe, die normalerwe­ise Jeremy Corbyn reflexhaft unterstütz­en, verlangen inzwischen vor dem EU-Austritt am 30. März 2019 ein erneutes Referendum. Das ist nicht unsere offizielle Politik, mahnt Corbyn zwar, der stattdesse­n Neuwahlen vorzieht. Aber angesichts der neuen Umfragezah­len sowie des innerparte­ilichen Widerstand­es gegen den EU-Ausstieg könnte eine zweite Volksabsti­mmung auf dem LabourPart­eitag Ende September zur Parteilini­e werden. Nur dann gibt es Chancen, den Brexit zu verhindern und für eine bessere EU von innen zu kämpfen.

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Foto: Reuters/Henry Nicholls Stimmung für ein erneutes Referendum: Londoner »Remainers« bei einer Demonstrat­ion im Juni

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