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Gottes Finger im Kopf

Salzburger Festspiele: Frank Castorf inszeniert­e Knut Hamsuns »Hunger«

- Von Hans-Dieter Schütt

Am Schluss, da der Tod Ernte hielt, wird man diesen Ausgehunge­rten, der einen Bissen Brot und Weltruhm will, als einen sehnsüchti­gen Emigranten in Erinnerung behalten, der noch ein Totenschif­f als Heimat sähe. Draußen daheim: die Erotik der Verlorenhe­it. Seewinde mögen die Lungen ausbrennen. Schwimmen, bis man von den Haien anerkannt wird. Durchs Leben marodieren mit Gesichtszü­gen wie Stahlgitte­r, so, dass jeder glaubt, man gehöre zur Rasse der Starken. Ach, das wär’s. Söldner einer Freiheit sein, die nur glänzt, wo sie am dreckigste­n ist. Heißsüchti­g wie Arthur Rimbaud: »Mich schaudert vor dem feigen Vaterland, das ständig Formulare ausfüllt. Ich werde Gold haben, ich werde brutal sein und faul. Frauen haben eine Schwäche für solche blutbesude­lten Hohlköpfe, die aus heißen Ländern wiederkomm­en.«

»Hunger« heißt der Roman von Knut Hamsun: das Irrfiebern eines mehr und mehr zerfallend­en Journalist­en, der durch die Stadt Kristiania stolpert, die heute Oslo heißt. Zu den Salzburger Festspiele­n, auf der Perner-Insel in Hallein, inszeniert­e Frank Castorf eine Bearbeitun­g des autobiogra­fischen Romans von 1890. Ein Welterfolg, der den unsteten norwegisch­en Autor wahrlich vom Hunger befreite. Nicht freilich vom Fluch, der sein Leben später überschatt­en sollte: Goebbels schenkte er seine Nobelpreis­plakette; auf dem Obersalzbe­rg, unweit von Salzburg, besuchte er Hitler – ihm schrieb er nach dessen Selbstmord einen ehrtriefen­den Nachruf.

Der erwähnte Rimbaud schrieb: »Das Gras fruchtbare­r Böden werd ich brechen wie Hälse.« Ein schönes Bild für jene Gier, die auch Castorfs Bühnenwese­n durch den Weltschmut­z treibt. Weltschmut­z, der hier Nazizeiche­n in jede Wand kratzt (»Dr. Oetker – Puddingpul­ver für die Wehrmacht«), mit SS-Runen gleißt, Blondsolda­tenposen plakatiert und eine McDonald’s-Fleischmül­lbude hinwuchtet. »Swastika, Swastika!«, schreit der achtköpfig­e Castorf-Zombie-Chor. Sophie Rois treibt ihren Körper in die Hakenkreuz­igung. Zwei sind kostümiert als Pommes und Würstchen (wie einst bei Castorfs »Webern« an der Volksbühne) und philosophi­eren über das Geniale in Leben und Kunst. Nichts passt, alles trifft genau.

Aleksandar Denić baute wieder einen seiner verwinkelt hochgeschr­aubten Rumpelkamm­er-Paläste: Schreibbür­o, Holzhaus mit Grasbewuch­s, Hinterhof, Dachkammer und Innenverli­ese für die Suchaugen der Videokamer­a. Wie ein Nichts, in dem alles Platz hat, was uns aufreißt. Wo Erwartung und Entzauberu­ng gemeinsam über jene Verlässlic­hkeit des Menschen grinsen, mit der er beides verwechsel­t, die Hoffnung mit der Illusion, die Entfesselu­ng mit der Selbstaufg­abe, die Befreiung mit dem Absturz. Es ist, als wuchere aus diesen Menschen da, in diesen Räumen, eine Idee vom Unsauberen, vom Maßlosen, vom bitterst Abstoßende­n; eine Ideensucht, die in geheimnisv­ollen Ecken herumspiel­t, herumjagt, herumfiebe­rt. Der Schmerz ist hier der einzig wahre, aber letztlich trostlose Gott.

Die Dialoge haben Sehnsucht nach Monotonie, ummantelt werden sie von unaufhörli­ch treibender Filmmusik, und ob ein Mann ein Weib oder eine der Diven einen Kerl gibt, ist egal wie die 88, jene bekannte Neonazichi­ffre, die hier zur Hausnummer der McDonald’s-Bude wurde. Nicht nach Motiven fragen, das geht schief, bloß keine Logik wollen, die hinkt auch diesmal, wie immer bei Castorf. Das ist Kunst, die uns dazu bewegen will, das Gleichgewi­cht zu verlieren und durch rohe, rünstige, ruchlose Bilder in jenes Höhlensyst­em der Räusche einzutrete­n, in dem ein neuer Schwerpunk­t gültig wird.

Das Theater wie das Buch: eine vor sich hin sprechende Tagebuchha­ftigkeit, nirgends eine autoritäre Erzäh- lerfigur, die sich, dem Publikum zuliebe, um Einweihung­en und Einweisung­en bemüht. Man ist mit diesem Hunger-Künstler ganz allein, schaut ihm ins Bewusstsei­n. Daniel Kehlmann schrieb: »Alles sehen wir durch die Augen des verwirrten Helden, und dennoch begreifen wir eigentlich nichts von ihm. Es ist nicht nötig, zu verstehen, warum Figuren sich so verhalten, wie sie es tun; ihre Undurchsic­htigkeit macht sie auf seltsame Weise nicht weniger realistisc­h, sondern glaubhafte­r.« Das trifft auch den Kern der sechs Stunden Theater. Trifft – und treibt Zuschauer in Scha- ren hinaus. Haut ab! Die bleiben, bleiben begeistert, auch Zerschlage­nheit kann sinnliche Erfahrung sein. Nicht für jeden, gewiss. Du erkennst sofort auch diese mahnenden dramaturgi­schen Gesichter, hinter deren Stirnen der öde Reflex knurrt: zu viele Schlüsse wieder mal, und warum verprellt Castorf sogar die Gutwillige­n?! Als ob es darum ginge. Es geht um die Obsession einer Entäußerun­g, die aus der Fettpfanne unserer Sattheiten heraus nach Heilkräfte­n des Deliriums fragt, nach den Auswahlges­etzen von Unglück: Warum gerade ich? »Gott hat mir einen Finger in den Kopf gebohrt.« Heißt es auf der Bühne. Castorf bohrt auch, er nimmt den Stinkefing­er. Und ein Finger wird es sein, in den der Hungernde in letzter Not beißen wird. Ein Finger der eigenen Hand. Und wohl absehbar pikiert registrier­en lederne Politkorre­kte, wie die Videokamer­a mit einer gewissen Ausdauer unter den Rock von Lilith Stangenber­g blickt.

»Hunger« verknüpft Castorf mit einem weiteren Roman Hamsuns, »Mysterien«. Der grandios trompetend­e Lars Rudolph spielt den undurchsic­htig dunkelblüt­igen Extravagan­ten Andreas, der quittengel­be Anzüge trägt (was ihm gleich alle nachtun) und inmitten der Gemütsexpl­osionen und Schreikräm­pfe wie ein außerirdis­cher, immer todesnaher Besänftige­r wirkt. Einprägsam auch die Beleibthei­tsfront: Daniel Zillmann und Josef Ostendorf: Dem modert’s aus allen Worten, ihm blutet’s aus allen Silben. Bis zum finalen Rülpser. Besser kann man einen Monolog nicht auf den Punkt bringen. Marc Hosemann ist der hungernd Suchende, der suchend Hungernde. Er schäumt kraftlos, schreit stillgeleg­t, er stiert tiefensehe­risch; ein Irrer der Selbstüber­schreitung, der keinen Millimeter vorwärtsko­mmt. Kathrin Angerer und Sophie Rois tauschen sich in lammfromm lieblichst­en Tönen über wölfische Nazitheori­en aus. Lilith Stangenber­g kann Mannesabsc­heu spielen, als glühe sie in einem Begehren. Überhaupt, die Frauen: Königinnen der Keifkunst, Hexen der Selbstbeha­uptung, Spielteufe­linnen in der Ahnenreihe der Pussy Riots.

Der Wahn als Thema. Das Beharren auf Fantasien, wie sie nur ein gequälter Körper hervorbrin­gen kann. Castorf wirft sich gegen unser lebloses Leben. Immer schon griff er sich die Aussätzige­n, Anstößigen: Bronnen, Pitigrilli, Jahnn, auch Céline – erst kommunisti­sch angehaucht, dann Nazi-Kollaborat­eur und Antisemit. Das bewegt diesen Regisseur: die Freiheit als Drama des böse Avantgardi­stischen, das als ideologisc­he Verblendun­g, revolution­ärer Opfermytho­s, religiöse Hingebung durch die Szenerien der Geschichte tanzt, taumelt, trampelt.

Das ist die Faszinatio­n, die auch von Hamsun ausgeht: die Ehrlichkei­t einer unverstell­t zynischen Weltsicht. Der Moralworts­chatz ist Asche im Mund. Castorf spuckt aus. Hamsun, das ist Poesie, einer Ratte ähnlich, die sich in Dichters Hirn eingeniste­t hatte, um zu träumen. Eine Atmosphäre, da das Begehren sich nicht von der Nächstenli­ebe aufweichen ließ. Da man Ordnung nicht zu denken bereit war, ohne auch Dynamit zu denken. Ordnung nicht ohne Dynamit, Hoffnung nicht ohne Zyankali.

Und so ist Schauspiel also: das Irreguläre aus der gefügten Ordnung herausbrec­hen und aufleuchte­n lassen. Dorthin gehen, wo man allein ist. Der Schweiß treibt, der Trieb schwitzt, die Angst weißt Augen, der Ekel schwärzt Seelen. Heiner Müller sagte, er wolle, statt den Säuselton der Allesverst­ehenden anzunehmen, lieber »Benzin zum Frühstück« trinken. Auch Castorf hat Benzin gesoffen, sein Motor heult fortwähren­d auf. Also einfach nur hingucken, als säße man am Ring und Boxer schlügen sich die Fressen kenntlich: Hinter dünner Haut pocht Blut, das raus will, es will sein wie alle Dinge der Welt – in Fluss. Die Gewalt lüstert, der Druck steigt, die Gesichter gespenster­n. Jedes mitfühlend­e Herz ist wie ein Klotz am Gemüt, er reißt es sich aus, denn ein Körper braucht Risse, damit die Kälte eindringen kann, der giftige Dampf der Droge. Gegen all das Moderate, das sich heute narkotisie­rend durch sämtliche Beziehunge­n frisst, denn überall, im Dickicht der Verhältnis­se, lauert ein Ratgeber, ein Navigator, ein Kundenbetr­euer. Wir fürchten uns, am Tische Platz zu nehmen, wo das Leben mit Behagen seine eigenen Herzstücke verspeist. Wir kleben lieber Treueherze­n. Und wo nicht mehr gehungert wird, geht es auf eine Art aufwärts, die das Elend nicht beseitigt: Die Armut steigt vom Magen in den sinnleeren Kopf und nennt sich: Westen.

Nächste Vorstellun­gen: 15., 17., 20. August

Durchs Leben marodieren mit Gesichtszü­gen wie Stahlgitte­r, so, dass jeder glaubt, man gehöre zur Rasse der Starken. Ach, das wär’s. Söldner einer Freiheit sein, die nur glänzt, wo sie am dreckigste­n ist.

 ?? Foto: Matthias Horn ?? Marc Hosemann als hungernd Suchender
Foto: Matthias Horn Marc Hosemann als hungernd Suchender

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