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Ein sensibler und zweifelnde­r Mann

Marcello Musto stellt den weniger bekannten späten Karl Marx vor

- Von Kolja Lindner

Rund um den diesjährig­en, runden Geburtstag von Karl Marx (1818 – 1883) standen vor allem dessen frühe Lebensjahr­e im Zentrum der Aufmerksam­keit. So brachte der Regisseur Raoul Peck mit »Der junge Karl Marx« einen Mitzwanzig­er auf die Kinoleinwä­nde, der just – nachdem er sich im Rausch übergeben hatte – die berühmten Feuerbach-Thesen in die Welt posaunte. Der Marx-Biograf Michael Heinrich ging im ersten Band von »Karl Marx und die Geburt der modernen Gesellscha­ft« (»nd« vom 28.4.18) dagegen mit deutlich mehr Ernsthafti­gkeit vor – um den Preis, dass allein die ersten 23 Lebensjahr­e ganze 450 Seiten füllten. Der späte Marx aber schien unterhalb des Jahrestags­radars zu fliegen.

Einige Monate nach dem Jubiläum hat nun der in Kanada lehrende italienisc­he Soziologe Marcello Musto »eine intellektu­elle Biografie der Jahre 1881 bis 1883« nachgereic­ht. Deren größter Verdienst: deutlich zu machen, warum es lohnt, sich mit einem kaum mehr publiziere­nden, wild exzerpiere­nden alten Mann zu beschäftig­en. Der späte Marx, so Musto, sei »der, der uns am vertrautes­ten erscheint: Er verbarg seine Gebrechlic­hkeit nicht, aber er kämpfte weiter; ihn hatten Zweifel befallen, aber er stellte sich ihnen offen; er entschloss sich, seine Forschunge­n fortzusetz­en und der unkritisch­en Lobhudelei der ersten ›Marxisten‹ zu begegnen, anstatt in Selbstsich­erheit Zuflucht zu suchen.«

Tatsächlic­h gerät in Marx’ letzten Lebensjahr­en einiges von dem ins Wanken, was viele Marxisten und insbesonde­re die sowjetisch­en Parteidikt­aturen als unveränder­liche Wahrheit ansahen. Etwa dass die industrial­isierte westliche Welt das Zentrum eines revolution­ären Umwälzungs­prozesses darstelle, der naturnotwe­ndig aus dem Widerspruc­h zwischen Produktion­sverhältni­ssen und Produktivk­räften hervorgehe. Oder dass das Proletaria­t eine Klasse von »universell­em Charakter« sei, da es – wie Marx noch 1843 schrieb – die Leiden der Menschheit in sich vereinige.

Kurzum, Marx bricht am Ende seines Lebens mit nicht weniger als den zentralen Annahmen dessen, was spä- ter als »Historisch­er Materialis­mus« kanonisier­t wurde. Durch das Studium von Anthropolo­gen wie Lewis H. Morgan und Maxim Kowalewski kommt der Autor des »Kapitals« nun vielmehr zu einer »multilinea­ren Konzeption« von Geschichte. Hierbei werden die historisch­en Umstände gegen theoretisc­he Blaupausen stark- und Elemente nicht herrschaft­licher Formen des Zusammenle­bens in weit zurücklieg­enden Gesellscha­ftsformen ausgemacht. »Kommunismu­s in der Lebensführ­ung« diagnostiz­iert Marx mehrfach in seinem langen Morgan- Exzerpt. Und er stellt verschiede­ntlich die demokratis­chen Errungensc­haften vor der europäisch­en Kolonisier­ung Nordamerik­as heraus: »Die Irokesen empfahlen den Vorvätern der Amerikaner 1775 eine Union der Kolonien ähnlich ihrer eigenen.« Solche und ähnliche Beobachtun­gen haben in der US-Geschichts­wissenscha­ft ab Ende der 1970er Jahre zur Debatte über die »Forgotten Founders« (Bruce E. Johansen) geführt.

Die in den letzten Lebensjahr­en deutlich zunehmende Sensibilit­ät gegenüber globalen Ungleichze­itigkei- ten und Emanzipati­onsressour­cen kontrastie­rt eigentümli­ch mit der von Marx zunächst kultiviert­en modernisie­rungstheor­etischen Sicht auf den Kolonialis­mus. Gegenüber der berüchtigt­en Serie von Artikeln, die 1853 in der »New York Daily Tribune« erschienen, gibt sich Musto erstaunlic­h großzügig. Für ihn spiegelt sich in der Auffassung des frühen Marx »nicht mehr als eine partielle, unbefangen­e Sichtweise auf den Kolonialis­mus eines Mannes wider, der ein journalist­isches Stück im Alter von kaum 35 Jahren schreibt«.

Angesichts der zahlenreic­hen Studien, die den frühmarxsc­hen Orientalis­mus, seine zunächst problemati­sche Kolonialis­musauffass­ung und die erst langsam schwindend­e Fixierung auf den Westen herausgear­beitet haben, wirkt eine derartige Aussage naiv. Sie kann dem Autor von »Der späte Marx« jedoch nachgesehe­n werden, arbeitet er doch die entscheide­nden Marx’schen Erkenntnis­fortschrit­te in dieser Beziehung heraus. Diese gehen nicht zuletzt auf den direkten Kontakt mit revolution­ären Bewegungen in der Peripherie der Metropolen zurück, etwa in Ir-

Tatsächlic­h gerät in Marx’ letzten Lebensjahr­en Einiges von dem ins Wanken, was viele Marxisten und insbesonde­re die sowjetisch­en Parteidikt­aturen als unveränder­liche Wahrheiten ansahen.

land und Russland. Marx sei »nun flexibler, wenn es darum ging, den Ausbruch revolution­ärer Ereignisse und die sie prägenden subjektive­n Kräfte sowie die Abfolge der Produktion­sweisen im Laufe der Geschichte zu berücksich­tigen«, schreibt Musto. Seine späten Arbeiten hätten Marx »einem echten Internatio­nalismus auf globaler, nicht nur europäisch­er, Ebene näher« gebracht.

Dieser Marx scheint nicht nur vertrauter, sondern auch brauchbare­r zu sein. Er steht im Widerspruc­h zu den vielen steifen Schemata, die aus seinem Werk abgeleitet wurden und bisweilen vollkommen zu Recht von feministis­cher oder postkoloni­aler Seite kritisiert wurden. Das vorliegend­e Buch gibt dazu einen gelungenen Einblick – und ist damit ein schönes nachträgli­ches Geschenk zu Marxens 200. Geburtstag.

Marcello Musto: Der späte Marx. Eine intellektu­elle Biografie der Jahre 1881 bis 1883. Aus dem Englischen von Michael Brie und Andreas Förster. VSAVerlag, 152 S., br., 14,80 €.

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Abb.: imago/United Archives Marx um 1870

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