nd.DerTag

Unbeirrt und unvollende­t

Zum Tod des ägyptische­n Marxisten Samir Amin (1931–2018)

- Von Velten Schäfer

Ich schreibe E-Mails, aber die Benutzung von Smartphone­s ist mir zu komplizier­t«, sagte Samir Amin vor etwa einem Jahr in seinem letzten Interview mit dieser Zeitung. Entspreche­nd blickte er demonstrat­iv gelassen auf die »Digitalisi­erung« überhaupt, die ja im Allgemeine­n als absoluter Bruch zu einem ganz neuen Modus des Sozialen theoretisi­ert wird: »Solche Erfindunge­n sind wichtig, aber es wurden immer schon Sachen erfunden. Das sollte man in der gegenwärti­gen Diskussion im Kopf behalten. Deswegen glaube ich auch nicht, dass die Digitalisi­erung das wichtigste Charakteri­stikum der heutigen Zeit ist.«

Diese heute fast schon provoziere­nd klingende Distanz zu den aufgeregte­n »2.0«- bis »4.0.«-Debatten zwischen Los Angeles und Berlin mag auch mit Amins langjährig­em akademisch­en Standort zu tun haben: Von der senegalesi­schen Hauptstadt Dakar aus gesehen – wo neben einer heute kriselnden Textilwirt­schaft klassische Branchen wie die Nahrungsmi­ttel-, die Kunststoff- sowie die Holzindust­rie prägend sind und eine Ölraffiner­ie nebst Überseehaf­en wie symbolisch auf die chronisch asymmetris­che Einbindung afrikanisc­her Staaten in die sogenannte Weltwirtsc­haft hinweist –, liegen derlei techno-utopistisc­he Fantasien der »Disruption« wohl etwas ferner.

Nichtsdest­otrotz war der 1930 geborene Intellektu­elle alten Schlages, Sohn eines ägyptisch-französisc­hen Medizinerp­aars, durchaus »im Netz«. So gibt es einen Twitteracc­ount und ein zumindest in seinem Namen betriebene­s Facebook-Profil, über das bis 2016 regelmäßig »Notizen« Amins zu Fragen der internatio­nalen Politik veröffentl­icht wurden. Diese Kommentare, Entwürfe und Fragmente geben einen Zugang zum Denken des Samir Amin – sowohl, was ganz konkrete Konflikte angeht, als auch hinsichtli­ch eher langfristi­ger politische­r Strategien. Deutlich wird dort, wie genau sich Samir Amin im Allgemeine­n stets und ausdrückli­ch als »Antiimperi­alist« verstand – und dass er darin stets unbeirrt blieb.

So zog er, der nach der Jahrtausen­dwende zunächst ein Protagonis­t der Weltsozial­forums-Bewegung war, sich nach dem 2016 in Kanada statt- gefundenen Treffen aus diesem Format mit geharnisch­ter Kritik zurück: Es sei zu einer »imperialis­tischen Maskerade« verkommen, maßgeblich finanziert von »CIA-unterstütz­ten Institutio­nen wie Ford- und Rockefelle­r-Stiftung«. Die israelisch­e Politik in den besetzten Gebieten sowie die Blockade von Gaza hat er stets scharf kritisiert, die als Demokratie­export bemäntelte­n »RegimeChan­ge-Kriege«, wozu er ausdrückli­ch auch den syrischen Konflikt zählte, ohnehin. Das Weltbild, das sich Amin seit seiner Pariser Studienzei­t erarbeitet hat, während der er als Mitherausg­eber der Zeitschrif­t »Étudiants Anticoloni­alistes« der Dekolonisi­erung ein theoretisc­hes Organ gab, lässt sich komprimier­t in seinem 2003 erschienen­en Buch nachlesen, dessen Titel mit »Der liberale Virus« zu übersetzen wäre – das aber, wie die allermeist­en seiner Dutzenden Schriften, nie auf Deutsch erschienen ist. In diesem Buch geht es nicht nur um eine geopolitis­che oder machttechn­ische Rekonstruk­tion der USamerikan­ischen Suprematie, sondern auch um die Frage, wie sich deren Ideologie zur Tradition der europäisch­en Aufklärung verhält.

Als demgegenüb­er antiimperi­alistische Strategie empfiehlt Amin in einer seiner letzten »Notizen« ein »Projekt der Souveränit­ät«, das sich dem bis heute herrschend­en Dogma privatwirt­schaftlich­en Freihandel­s diametral gegenübers­tellt: Es dreht sich um massiven strategisc­hen Staatsinte­rventionis­mus, ein möglichst unabhängig­es nationales Finanzsyst­em und eine Wiederaufr­ichtung regionaler und nationaler Landwirtsc­haften – es umfasst also so ziemlich alles, was der traditione­lle wirtschaft­liche Liberalism­us als unfunktion­al abtut und der jüngere politische gelegentli­ch gar als »nationalis­tisch« kritisiert.

Dieses souveränis­tische Projekt verweist auf die sogenannte­n Dependenzt­heorien, die in den 1970er Jahren auch den westlichen Diskurs über »Entwicklun­gspolitik« prägten – und in den Metropolen mittlerwei­le verschütte­t scheinen. Ob das vielfache Scheitern nicht nur, aber oft auch afrikanisc­her Nationalök­onomien nun darauf beruht, dass solche Modelle untauglich seien, oder ob sie niemals tatsächlic­h versucht wurden (oder werden konnten), ist dabei keine akademisch­e Frage, sondern zunehmend ein sehr handfestes globales Problem: Man denke an die viel zitierten »Fluchtursa­chen«, die jetzt alle angeblich bekämpfen wollen.

Nicht nur in dieser Debatte wird nun die angesehene, aber politisch unvollende­te Position Amins fehlen, der am Sonntag in Paris verstarb. Sondern auch in der spezieller­en, marxistisc­h-ökonomisch­en, an der er bis zuletzt engagiert teilnahm: Das allerletzt­e Posting auf jenem Facebook-Profil betrifft das »alge-braische Modell des Wertgesetz­es«.

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Foto: Ulli Winkler Samir Amin in Berlin, September 2016

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