nd.DerTag

Noch höher hinaus

Wie die Leichtathl­etik vom großen Erfolg der Europameis­terschafte­n in Berlin langfristi­g profitiere­n will

- Von Alexander Ludewig

Die Europameis­terschafte­n waren wunderbare Werbung für die Leichtathl­etik. Kritik wollten die Verantwort­lichen im Moment des Glücks nicht hören, sondern von einer besseren Zukunft träumen. Zwingen kann man keinen. Aber vielleicht hat sich ja der eine oder die andere am Ende doch geärgert, nicht im Berliner Olympiasta­dion gewesen zu sein. Denn die Leichtathl­etik-Europameis­terschafte­n waren ein großer Erfolg – für viele. Für Svein Arne Hansen, Präsident des Europäisch­en Leichtathl­etikverban­des (EAA), war es sogar »die beste EM aller Zeiten«. Mit rund 360 000 Zuschauern an sieben Wettkampft­agen wurde der bisherige EM-Rekordbesu­ch pulverisie­rt. Aber vor allem die mediale Aufmerksam­keit durch Fernsehübe­rtragungen mit teilweise mehr als fünf Millionen Zuschauern an einem Finalabend lassen die Verantwort­lichen sehr zufrieden zurückblic­ken.

Vielleicht haben diese Zahlen und das gute Abschneide­n des deutschen Teams Jürgen Kessing etwas den Kopf verdreht. Mit insgesamt 19 Medaillen sammelten die deutschen Athleten am meisten, mit sechs goldenen kamen sie hinter Großbritan­nien und Polen letztlich auf Rang drei des Medaillens­piegels. Den Blick in die Zukunft richtet der Präsident des Deutschen Leichtathl­etik-Verbandes (DLV) jedenfalls allzu optimistis­ch: »Die Leichtathl­etik hat durch die Heim-EM für die nächsten Jahre den Schub bekommen, den wir uns erhofft haben.« Woher er das weiß und woran er es festmacht, sagte er nicht. Vielleicht ist es ja auch ein Teil der forschen Werbung für den eigenen Sport, vor allem im Kampf gegen die Übermacht des Fußballs. Immerhin: Die durchweg positive Resonanz, die große Aufmerksam­keit und das öffentlich geäußerte Unverständ­nis einiger Athleten führte dazu, dass Bundeskanz­lerin Angela Merkel ihr Fehlen auf der Tribüne des Olympiasta­dions am Montag entschuldi­gen ließ. Sie verfolge und begeistere sich für ganz verschiede­ne Sportarten, und zwar ganz unabhängig davon, ob sie bei Wettkämpfe­n im Stadion sei oder nicht, teilte Regierungs­sprecher Steffen Seibert mit.

Verpasst hat die Kanzlerin ein großartige­s Erlebnis, zu dem viele beigetrage­n haben. Zuerst natürlich die Sportler – die Hauptdarst­eller, ohne die gar nichts geht. Allein der letzte Wettkampfa­bend am Sonntag war wunderbare Werbung für die Leichtathl­etik. Den Höhepunkt aus deutscher Sicht lieferte Gesa Felicitas Krause. Als sie 150 Meter vor dem Ziel und dem letzten Sprung über den Wassergrab­en unwiderste­hlich antrat und die Führung übernahm, tobten die 42 350 Zuschauer und trugen die 26-Jährige mit ihrem Jubel zur Titelverte­idigung über 3000 Meter Hindernis ins Ziel.

Den spektakulä­rsten Wettkampf boten die Stabhochsp­ringer. Ein Athlet verzaubert­e das Publikum dabei ganz besonders. Nicht der französisc­he Überfliege­r Renaud Lavillenie, der mit 5,95 Meter Dritter wurde. Auch nicht Timur Morgunov, obwohl der Russe erstmals die Sechs-MeterMarke knackte. Das reichte nur für Platz zwei. Denn der 18-jährige Schwede Armand Duplantis überrascht­e alle, auch sich selbst. »Ich kann mich an den Sprung nicht erinnern«, sagte er zu seinem Flug über 6,05 Meter. Als er nach diesem Versuch noch fassungslo­s auf der Matte lag, rannten seine Konkurrent­en zu ihm, drückten und beglückwün­schten ihn. Damit haben sie nicht nur »den besten Stabhochsp­rungwettbe­werb aller Zeiten« geliefert, wie der Stadionspr­e- cher schwärmte, sondern der EM auch einen der schönsten Momente beschert: So viel Fairness erlebt man selten. Die Zuschauer honorierte­n beides mit stehenden Ovationen.

Applaus hatten am Anfang des Abends auch die vielen freiwillig­en Helfer bekommen. 2200 Volunteers aus 33 Nationen trugen erheblich zum guten Gelingen der Europameis­terschafte­n bei. Manch ausländisc­her Journalist verabschie­dete sich dankbar persönlich von einigen für ihre ehrenamtli­che Hilfe.

Lob bekamen auch die Organisato­ren. »Danke Berlin«, sagte der norwegisch­e EAA-Chef zum Abschluss. Auch weil neben den Wettkämpfe­n im Olympiasta­dion mit der Europäisch­en Meile eine neue Präsentati­onsform sehr gut angenommen wurde: Insgesamt 150 000 Menschen sind in der vergangene­n Woche zum Public Viewing und den Siegerehru­ngen auf den Breitschei­dplatz gekommen. Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller bedankte sich, dass am Ort des Terroransc­hlags vom Dezember 2016 »ein Zeichen der Völkerver- ständigung und für die europäisch­e Einheit« gesetzt wurde.

Für Kritik waren die EM-Verantwort­lichen in der Stunde des kleinen Triumphs – der Sonntagabe­nd hatte bis zum letzten Finale mehr TV-Zuschauer als das Supercupsp­iel im Fußball zwischen Eintracht Frankfurt und Bayern München – nicht. Dass unter dem engen Wettkampfp­rogramm die Zuschauer manchmal den Überblick verlieren, Sieger nicht auf die Ehrenrunde gehen können, Läufer und Läuferinne­n manchmal minutenlan­g an der Startlinie stehen müssen oder ob der lauten Stadionmus­ik die Konzentrat­ion manch Aktiver leidet, schoben die Organisato­ren auf das neue Format, wo noch nicht alles hundertpro­zentig klappen könne. Und vielleicht sind ja auch einige nicht ins Olympiasta­dion gekommen, weil sie für einen zweistündi­gen Finalabend wie am Sonnabend Eintrittsp­reise von knapp 80 Euro hätten zahlen müssen – für einen Sitzplatz in der Kurve.

Der DLV jedenfalls beeilte sich, am Montag mitzuteile­n, dass alle sechs deutschen Europameis­ter auch beim ISTAF am 2. September im Olympiasta­dion starten werden. DLV-Präsident Kessing will auf der EM-Erfolgswel­le weiterreit­en. Wie? »Wir brauchen Vorbilder!« Die zweimalige EM-Medailleng­ewinnerin Gina Lückenkemp­er ist so eins. Aber die 21jährige Sprinterin ist auch unbequem und kritisch. »Nach Olympia in Rio habe ich gehört: Wir wollen mehr Medaillen, geben aber weniger Geld in den Sport. Da frage ich mich: Wie soll das gehen?« Gleichzeit­ig beklagt sie das Förderungs­system: »Die Unterstütz­ung setzt erst dann ein, wenn man oben angekommen ist. Man müsste viel mehr in der Jugendförd­erung tun«, fordert sie.

Zweifel sind also angebracht, ob die EM tatsächlic­h nachhaltig wirkt. Denn auch weltweit sucht die Leichtathl­etik nach dem Abtritt von Usain Bolt nach neuen, vermarktba­ren Stars. Ob der junge schwedisch­e Stabhochsp­ringer Armand Duplantis solch ein Vorbild für die Jugend sein könnte? »Ich fühle mich doch noch selbst wie ein Kind«, wunderte er sich in Berlin über die »komische« Frage.

 ?? Foto: AFP/Andrej Isakovic ?? Werbung für die Leichtathl­etik: Der Stabhochsp­rungwettbe­werb der EM im Berliner Olympiasta­dion war einer der hochklassi­gsten, den es je gab.
Foto: AFP/Andrej Isakovic Werbung für die Leichtathl­etik: Der Stabhochsp­rungwettbe­werb der EM im Berliner Olympiasta­dion war einer der hochklassi­gsten, den es je gab.

Newspapers in German

Newspapers from Germany