Östrogene oder Stress?
Warum Frauen häufiger von Alzheimer-Demenz betroffen sind als Männer
Noch ist umstritten, warum Frauen häufiger Alzheimer haben.
Es liegt vermutlich nicht nur an der höheren Lebenserwartung, dass mehr Frauen an Alzheimer erkranken als Männer. Auch hormonelle Prozesse spielen hier eine Rolle. Gegenwärtig leben in Deutschland rund 1,7 Millionen Menschen mit Demenz. Die meisten davon sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen, bei der sich im Gehirn nervenschädigende Eiweiße ablagern, sogenannte Amyloid-Plaques, die neben dem Gedächtnis auch die motorische und geistige Leistungsfähigkeit der Patienten irreversibel beeinträchtigen. Die zweithäufigste Form der Demenz, die sogenannte vaskuläre Demenz, wird durch eine Störung der Blutversorgung des Gehirns verursacht. Daneben gibt es Mischformen beider, sowie seltene Demenztypen, die zum Beispiel im Zusammenhang mit der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit auftreten und ebenfalls zu einem fortschreitenden Verlust an Nervenzellen führen.
Infolge demografischer Veränderungen kommt es in Deutschland heute zu weitaus mehr Neuerkrankungen an Demenz als zu Sterbefällen unter den bereits Betroffenen. Dadurch steigt die Zahl der Patienten kontinuierlich an. Wenn der Wissenschaft kein Durchbruch bei der Prävention und Therapie der Krankheit gelingt, könnte sich die Zahl dementer Menschen bis zum Jahr 2050 auf rund drei Millionen erhöhen. Das entspräche einem mittleren Anstieg der Patientenzahl um 40 000 pro Jahr oder um mehr als 100 pro Tag.
Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint, ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand eine AlzheimerDemenz entwickelt, heute nicht höher als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Damals jedoch erreichten nur wenige Menschen ein Alter von 80 und mehr Jahren, in dem Demenzerkrankungen gehäuft auftreten. So gesehen ist die steigende Lebenserwartung, die ansonsten als große Errungenschaft der Medizin gilt, der Hauptrisikofaktor für Alzheimer. Manche Mediziner gehen sogar davon aus, dass fast alle Menschen von Demenz betroffen wären, wenn sie nur alt genug würden. Im Zuge einer weiteren Steigerung der Lebenserwartung ist die Medizin daher besonders gefordert, wirksame Therapien gegen Demenzerkrankungen zu entwickeln.
Aus der Statistik geht hervor, dass deutlich mehr Frauen als Männer an Alzheimer-Demenz leiden. An sich ist das nicht weiter verwunderlich, denn Frauen werden in Deutschland im Schnitt fünf Jahre älter als Männer. Sie sind deshalb in den höchsten Altersgruppen, in denen das Erkrankungsrisiko stark ansteigt, zahlreicher vertreten. Diese Erklärung hal- ten manche Experten jedoch für unzureichend. Denn aus verschiedenen Studien geht hervor, dass Frauen auch unabhängig vom Alter häufiger an Alzheimer-Demenz erkranken und dass sich die Krankheit bei ihnen gravierender auswirkt als bei Männern.
»Im Gegensatz zum ganz normalen Nachlassen geistiger Fähigkeiten mit dem Alter gibt es bei der Alzheimer-Krankheit irgendetwas, das speziell Frauen benachteiligt«, sagt Keith Laws, Neuropsychologe an der University of Hertfordshire in England. Er und sein Team werteten 15 Studien aus, an denen sich insgesamt 1238 weibliche und 828 männliche Alzheimer-Patienten beteiligt hatten. Ergebnis: Bei den sprachlichen Fähigkeiten, dem räumlichen Vorstellungsvermögen sowie verschiedenen Formen der Gedächtnisleistung erbrachten die Männer bessere Testresultate als die Frauen.
Woraus diese Unterschiede resultieren, ist noch weitgehend ungeklärt. Es deutet jedoch vieles darauf hin, dass weibliche Sexualhormone, sogenannte Östrogene, den Krankheitsverlauf beeinflussen. Bei Frauen nehme die Menge der vornehmlich in den Eierstöcken produzierten Östrogene mit dem Alter ab, erklärt die Neurowissenschaftlerin Gillian Einstein von der University of Toronto. »Ironischerweise ist bei Männern die Östrogenmenge, die sie herstellen, zwar niedrig, doch sie bleibt gleich. Das spielt für das Alzheimer-Risiko vermutlich eine wichtige Rolle.« Untersuchungen haben ergeben, dass ein hoher Östrogenspiegel bei Frauen zu einer Volumenzunahme des Hippocampus führt. Dieser Teil des Gehirns ist wichtig für Lern- und Gedächtnisprozesse, die bei Alzheimer besonders beeinträchtigt sind. Es wä- re daher denkbar, dass ein anhaltender Abfall des weiblichen Östrogenspiegels in den Wechseljahren das Auftreten neurodegenerativer Prozesse fördert.
»In unserer Wahrnehmung sind Östrogene Geschlechtshormone, die nur mit Reproduktion zu tun haben. Doch tatsächlich sind sie auch Wachstumsfaktoren«, betont Gillian Einstein. »Sie bringen Nervenzellen zum Wachsen, sie festigen Verbindungen zwischen Neuronen, den sogenannten Synapsen. Fehlen Östrogene, ist es einfacher, die neuronalen Verbindungen zu trennen. Und letzt- lich ist Alzheimer eine Krankheit, bei der Verbindungen zwischen Nervenzellen im Gehirn verloren gehen.«
Auch andere Wissenschaftler sind überzeugt, dass Östrogenmangel das Auftreten von Alzheimer begünstigt. Dazu gibt es entsprechende Daten: In den USA wurden über 2300 Frauen erfasst, denen man zwischen 1950 und 1987 aus medizinischen Gründen die Eierstöcke entfernt hatte. Später entwickelten diese Frauen im Vergleich zu Frauen mit Eierstöcken signifikant mehr neurodegenerative Erkrankungen. Das Parkinsonrisiko stieg um 68, das Demenzrisiko um 50 Prozent. Wurde bei den operierten Frauen allerdings früh eine Östrogensubstitution eingeleitet, trat ein solcher Effekt nicht auf. In einer ebenfalls in den USA durchgeführten Längsschnittstudie standen mit Östrogen behandelte Frauen 50 Jahre lang unter klinischer Beobachtung. Dabei zeigte sich, dass die Durchblutung des Hippocampus sowie der Sprachverarbeitungszentren bei ihnen in keiner Weise beeinträchtigt war. Das wiederum korrelierte mit dem Erhalt der Intelligenz und der geistigen Fitness bis ins hohe Alter.
Die Frage, ob eine Östrogenersatztherapie gegen Alzheimer sinnvoll ist, wird unter Wissenschaftlern kontrovers diskutiert, zumal die Studienergebnisse nicht eindeutig sind. Auch kann die Ersatztherapie weitere Risiken mit sich bringen wie das für Brustkrebs. Nur bei Frauen, bei denen eine Hormonersatztherapie während oder kurz nach der Menopause eingeleitet wurde, ließ sich ein schützender Effekt auf das Gehirn nachweisen. Eine spätere Gabe von Östrogenen scheint den geistigen Verfall dagegen zu fördern.
Hormone seien indes nur ein Teil des Ursachengeflechts, das einer so komplexen Erkrankung wie Alzheimer zugrunde liege, erklärte Gillian Einstein unlängst in einem Interview mit der »Neuen Zürcher Zeitung«. »Wir wissen, dass Stress ein Risikofaktor für Depressionen ist und dass Depressionen das Risiko für Alzheimer erhöhen.«
Da Frauen weitaus häufiger an Depressionen erkrankten als Männer, sei es angebracht, in der Alzheimerforschung auch die Lebensumstände beider Geschlechter stärker zu berücksichtigen. So seien beispielsweise zwei Drittel aller Menschen, die Demenzpatienten betreuten, weiblich. »Die durchschnittliche Betreuungsperson ist eine 49-jährige berufstätige Frau. Sie leistet pro Woche 20 Stunden unbezahlte Pflegearbeit für ihre Mutter oder ihren Vater.« Gillian Einstein hegt keinen Zweifel: »Das ist Gender. Unsere Lebensumstände formen unsere Biologie ebenso wie Gene und Hormone, auch sie prägen unsere Gesundheit und beeinflussen, wie das weibliche Gehirn altert.«
Die Frage, ob eine Östrogenersatztherapie gegen Alzheimer sinnvoll ist, wird unter Wissenschaftlern kontrovers diskutiert.