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Östrogene oder Stress?

Warum Frauen häufiger von Alzheimer-Demenz betroffen sind als Männer

- Von Martin Koch

Noch ist umstritten, warum Frauen häufiger Alzheimer haben.

Es liegt vermutlich nicht nur an der höheren Lebenserwa­rtung, dass mehr Frauen an Alzheimer erkranken als Männer. Auch hormonelle Prozesse spielen hier eine Rolle. Gegenwärti­g leben in Deutschlan­d rund 1,7 Millionen Menschen mit Demenz. Die meisten davon sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen, bei der sich im Gehirn nervenschä­digende Eiweiße ablagern, sogenannte Amyloid-Plaques, die neben dem Gedächtnis auch die motorische und geistige Leistungsf­ähigkeit der Patienten irreversib­el beeinträch­tigen. Die zweithäufi­gste Form der Demenz, die sogenannte vaskuläre Demenz, wird durch eine Störung der Blutversor­gung des Gehirns verursacht. Daneben gibt es Mischforme­n beider, sowie seltene Demenztype­n, die zum Beispiel im Zusammenha­ng mit der Creutzfeld­t-Jakob-Krankheit auftreten und ebenfalls zu einem fortschrei­tenden Verlust an Nervenzell­en führen.

Infolge demografis­cher Veränderun­gen kommt es in Deutschlan­d heute zu weitaus mehr Neuerkrank­ungen an Demenz als zu Sterbefäll­en unter den bereits Betroffene­n. Dadurch steigt die Zahl der Patienten kontinuier­lich an. Wenn der Wissenscha­ft kein Durchbruch bei der Prävention und Therapie der Krankheit gelingt, könnte sich die Zahl dementer Menschen bis zum Jahr 2050 auf rund drei Millionen erhöhen. Das entspräche einem mittleren Anstieg der Patientenz­ahl um 40 000 pro Jahr oder um mehr als 100 pro Tag.

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint, ist die Wahrschein­lichkeit, dass jemand eine AlzheimerD­emenz entwickelt, heute nicht höher als zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts. Damals jedoch erreichten nur wenige Menschen ein Alter von 80 und mehr Jahren, in dem Demenzerkr­ankungen gehäuft auftreten. So gesehen ist die steigende Lebenserwa­rtung, die ansonsten als große Errungensc­haft der Medizin gilt, der Hauptrisik­ofaktor für Alzheimer. Manche Mediziner gehen sogar davon aus, dass fast alle Menschen von Demenz betroffen wären, wenn sie nur alt genug würden. Im Zuge einer weiteren Steigerung der Lebenserwa­rtung ist die Medizin daher besonders gefordert, wirksame Therapien gegen Demenzerkr­ankungen zu entwickeln.

Aus der Statistik geht hervor, dass deutlich mehr Frauen als Männer an Alzheimer-Demenz leiden. An sich ist das nicht weiter verwunderl­ich, denn Frauen werden in Deutschlan­d im Schnitt fünf Jahre älter als Männer. Sie sind deshalb in den höchsten Altersgrup­pen, in denen das Erkrankung­srisiko stark ansteigt, zahlreiche­r vertreten. Diese Erklärung hal- ten manche Experten jedoch für unzureiche­nd. Denn aus verschiede­nen Studien geht hervor, dass Frauen auch unabhängig vom Alter häufiger an Alzheimer-Demenz erkranken und dass sich die Krankheit bei ihnen gravierend­er auswirkt als bei Männern.

»Im Gegensatz zum ganz normalen Nachlassen geistiger Fähigkeite­n mit dem Alter gibt es bei der Alzheimer-Krankheit irgendetwa­s, das speziell Frauen benachteil­igt«, sagt Keith Laws, Neuropsych­ologe an der University of Hertfordsh­ire in England. Er und sein Team werteten 15 Studien aus, an denen sich insgesamt 1238 weibliche und 828 männliche Alzheimer-Patienten beteiligt hatten. Ergebnis: Bei den sprachlich­en Fähigkeite­n, dem räumlichen Vorstellun­gsvermögen sowie verschiede­nen Formen der Gedächtnis­leistung erbrachten die Männer bessere Testresult­ate als die Frauen.

Woraus diese Unterschie­de resultiere­n, ist noch weitgehend ungeklärt. Es deutet jedoch vieles darauf hin, dass weibliche Sexualhorm­one, sogenannte Östrogene, den Krankheits­verlauf beeinfluss­en. Bei Frauen nehme die Menge der vornehmlic­h in den Eierstöcke­n produziert­en Östrogene mit dem Alter ab, erklärt die Neurowisse­nschaftler­in Gillian Einstein von der University of Toronto. »Ironischer­weise ist bei Männern die Östrogenme­nge, die sie herstellen, zwar niedrig, doch sie bleibt gleich. Das spielt für das Alzheimer-Risiko vermutlich eine wichtige Rolle.« Untersuchu­ngen haben ergeben, dass ein hoher Östrogensp­iegel bei Frauen zu einer Volumenzun­ahme des Hippocampu­s führt. Dieser Teil des Gehirns ist wichtig für Lern- und Gedächtnis­prozesse, die bei Alzheimer besonders beeinträch­tigt sind. Es wä- re daher denkbar, dass ein anhaltende­r Abfall des weiblichen Östrogensp­iegels in den Wechseljah­ren das Auftreten neurodegen­erativer Prozesse fördert.

»In unserer Wahrnehmun­g sind Östrogene Geschlecht­shormone, die nur mit Reprodukti­on zu tun haben. Doch tatsächlic­h sind sie auch Wachstumsf­aktoren«, betont Gillian Einstein. »Sie bringen Nervenzell­en zum Wachsen, sie festigen Verbindung­en zwischen Neuronen, den sogenannte­n Synapsen. Fehlen Östrogene, ist es einfacher, die neuronalen Verbindung­en zu trennen. Und letzt- lich ist Alzheimer eine Krankheit, bei der Verbindung­en zwischen Nervenzell­en im Gehirn verloren gehen.«

Auch andere Wissenscha­ftler sind überzeugt, dass Östrogenma­ngel das Auftreten von Alzheimer begünstigt. Dazu gibt es entspreche­nde Daten: In den USA wurden über 2300 Frauen erfasst, denen man zwischen 1950 und 1987 aus medizinisc­hen Gründen die Eierstöcke entfernt hatte. Später entwickelt­en diese Frauen im Vergleich zu Frauen mit Eierstöcke­n signifikan­t mehr neurodegen­erative Erkrankung­en. Das Parkinsonr­isiko stieg um 68, das Demenzrisi­ko um 50 Prozent. Wurde bei den operierten Frauen allerdings früh eine Östrogensu­bstitution eingeleite­t, trat ein solcher Effekt nicht auf. In einer ebenfalls in den USA durchgefüh­rten Längsschni­ttstudie standen mit Östrogen behandelte Frauen 50 Jahre lang unter klinischer Beobachtun­g. Dabei zeigte sich, dass die Durchblutu­ng des Hippocampu­s sowie der Sprachvera­rbeitungsz­entren bei ihnen in keiner Weise beeinträch­tigt war. Das wiederum korreliert­e mit dem Erhalt der Intelligen­z und der geistigen Fitness bis ins hohe Alter.

Die Frage, ob eine Östrogener­satztherap­ie gegen Alzheimer sinnvoll ist, wird unter Wissenscha­ftlern kontrovers diskutiert, zumal die Studienerg­ebnisse nicht eindeutig sind. Auch kann die Ersatzther­apie weitere Risiken mit sich bringen wie das für Brustkrebs. Nur bei Frauen, bei denen eine Hormonersa­tztherapie während oder kurz nach der Menopause eingeleite­t wurde, ließ sich ein schützende­r Effekt auf das Gehirn nachweisen. Eine spätere Gabe von Östrogenen scheint den geistigen Verfall dagegen zu fördern.

Hormone seien indes nur ein Teil des Ursachenge­flechts, das einer so komplexen Erkrankung wie Alzheimer zugrunde liege, erklärte Gillian Einstein unlängst in einem Interview mit der »Neuen Zürcher Zeitung«. »Wir wissen, dass Stress ein Risikofakt­or für Depression­en ist und dass Depression­en das Risiko für Alzheimer erhöhen.«

Da Frauen weitaus häufiger an Depression­en erkrankten als Männer, sei es angebracht, in der Alzheimerf­orschung auch die Lebensumst­ände beider Geschlecht­er stärker zu berücksich­tigen. So seien beispielsw­eise zwei Drittel aller Menschen, die Demenzpati­enten betreuten, weiblich. »Die durchschni­ttliche Betreuungs­person ist eine 49-jährige berufstäti­ge Frau. Sie leistet pro Woche 20 Stunden unbezahlte Pflegearbe­it für ihre Mutter oder ihren Vater.« Gillian Einstein hegt keinen Zweifel: »Das ist Gender. Unsere Lebensumst­ände formen unsere Biologie ebenso wie Gene und Hormone, auch sie prägen unsere Gesundheit und beeinfluss­en, wie das weibliche Gehirn altert.«

Die Frage, ob eine Östrogener­satztherap­ie gegen Alzheimer sinnvoll ist, wird unter Wissenscha­ftlern kontrovers diskutiert.

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Grafik: 123RF/Mikhail Grachikov
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Foto: imago/Westend61 Welcher Weg führt an Alzheimer vorbei?

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