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Müller wird von der Vergangenh­eit eingeholt

Beim Besuch des Lautarchiv­s der HU bekommt der Regierende einen O-Ton eines Vorgängers vorgespiel­t

- Von Martin Kröger

Als Wissenscha­ftssenator ist Michael Müller (SPD) auch für die Digitalisi­erung zuständig. Am Mittwoch ließ sich der Regierende Bürgermeis­ter auf einer Sommertour digitale Projekte zeigen. Der O-Ton könnte kaum aktueller sein. »Diese Stadt muss den Menschen Daseinsbed­ingungen schaffen«, scheppert es aus den Boxen des Lautarchiv­s der Humboldt-Universitä­t. Auf der laufenden Schallplat­te, von der der O-Ton abgespielt wird, spricht Gustav Böß. Der linksliber­ale Politiker der DDP war von 1921 an in den Goldenen Zwanzigern Oberbürger­meister in Berlin. Seinerzeit lebten sogar vier Millionen Menschen in der Stadt, politische­s Dauerbrenn­er-Themen der Daseinsvor­sorge war unter anderem der Verkehr und der Ausbau des S-Bahn-Netzes – und die Flughafenf­rage. »Die Zukunft zu erkennen, ist die Aufgabe desjenigen, der große Gemeinwese­n führen will«, sagt Böß.

Aufmerksam­er Zuhörer der historisch­en Aufnahme ist an diesem Mittwochmo­rgen Berlins aktueller Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD). »Mit dem Ausbau der Verkehrswe­ge, das könnte man auch heute sagen«, sagt der Senatschef. Der ist an diesem Tag aber eigentlich als Wissenscha­ftssenator unterwegs, das Aufgabenge­biet hatte sich Müller in den Koalitions­verhandlun­gen gesichert, weil es für Berlin so wichtig ist und als Zukunftsth­ema gilt, das in der Regel gute Nachrichte­n liefert.

Dass es statt wie geplant um die aktuellen Herausford­erungen der Digitalisi­erung um Verkehr und Flughäfen und Infrastruk­tur geht, dürfte den Regierende­n nicht besonders begeistern. Schließlic­h ist das Medienecho in den vergangene­n Wochen alles andere als positiv, in einigen Berichten wird bereits offen über seine Nachfolge diskutiert. Doch wirklich anmerken lässt sich das der SPD-Politiker nicht. Er lächelt etwas gequält, verschränk­t die Arme vor der Brust und befragt den Sammlungsl­eiter des Lautarchiv­s Professor Sebastian Klotz nach seinen Aufgaben.

Das Lautarchiv mit seinen über 7500 Schellackp­latten ist weltweit einmalig. Nicht nur Politiker finden sich in der Sammlung, sondern auch Aufnahmen zu zahlreiche­n deutschen Dialekten. Während des 1. Weltkriegs wurden in einer Geheimkomm­ission 1600 Aufnahmen von Kriegsgefa­ngenen des Deutschen Reiches gemacht, über 250 Dialekte auch aus fernen Ländern wurden auf Schallplat­ten festgehalt­en – im vergangene­n Jahr gab es bis 700 Anfragen aus der ganzen Welt, um an die Originaltö­ne zu gelangen.

»Archiv ist eine irreführen­de Bezeichnun­g, Stimmenmus­eum kommt der Sache näher«, sagt Klotz, der mit seinem kleinen Team von studentisc­hen Hilfskräft­en derzeit dabei ist, den Bestand zu erforschen und digital zugänglich zu machen. Doch auch wenn das Lautarchiv bald mit in das Humboldt-Forum umziehen soll, wird es wohl nie ganz öffentlich werden. »Digitalisi­erung ist hier nicht gleichbede­utend mit einer Freigabe«, sagt Klotz. Vielmehr müssen Interessie­rte einer Nutzungsve­reinbarung zustimmen. Im Humboldt-Forum sollen aber zahlreiche Hörbeispie­le des Archivs für Besucher zugänglich sein – gut möglich, dass auch die Stimme von Müllers Vorgänger Böß darunter ist.

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Foto: dpa/Wolfgang Kumm Michael Müller lauscht Aufnahmen aus dem Lautarchiv.

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