nd.DerTag

Die letzte Zeugin

Die Filmdokume­ntation »Familie Brasch«: das Projekt DDR, Söhne gegen Väter, die Staatsmach­t gegen den Einzelnen

- Von Gunnar Decker

Eine Frau läuft durch New York. Langsam taucht sie aus dem Menschenst­rom auf, bekommt eine Kontur, ein Gesicht. So die Anfangsseq­uenz in Annekatrin Hendels Familien-Dokumentat­ion »Familie Brasch« (Kamera: Thomas Plenert). Es ist Marion Brasch, so etwas wie die letzte Zeugin jener dramatisch­en Geschichte, die da heißt: Einbruch der Zeitgeschi­chte in die Lebensgesc­hichte der Einzelnen.

New York? Weiter weg kann man wohl nicht laufen vor dem, was in diesem Film verhandelt wird. Doch ums Weglaufen geht es in »Familie Brasch« eigentlich nicht, eher ums ewig misslingen­de Ankommen der verschiede­nen Generation­en bei sich selbst – und heute in einem Land, das die DDR-Geschichte immer noch als Fremdkörpe­r abstößt, sobald sie sich jenseits des simplen Opfer-TäterMuste­rs bewegt. An den Braschs jedoch wäre zu lernen, wie in der Geschichte Opfer zu Tätern werden und Täter zu Opfern.

Der Sozialismu­s als Tragikomöd­ie lässt sich an den Braschs aus der Perspektiv­e des jüngsten Kindes Marion Brasch (geboren 1961) erzählen. So wie Heinrich Breloer einst »Die Manns« 2001 aus Sicht von Elisabeth drehte, der jüngsten Tochter Thomas Manns. Wie Breloer plant auch Annekatrin Hendel nach der Dokumentat­ion den Spielfilm, der im kommenden Jahr folgen soll.

Marion Brasch, Tochter des SEDFunktio­närs Horst Brasch, hat nun also so etwas wie das letzte Wort über ihre Familie. Mit ihrem Buch »Ab jetzt ist Ruhe« traf sie bereits einen wunderbar unmittelba­ren Ton, jenseits der in ihrer Familie üblichen Rechthaber­ei, um die Geschichte der Braschs als deutsche Teilungsge­schichte zu erzählen. Das Komplizier­te schien darin einfach, das Schwere leicht.

Wenn das der Vater und die drei Brüder wüssten, dass ihnen die kleine Marion die Schau stiehlt, letzte Worte über sie alle spricht – und nun auch noch in Annekatrin Hendels Film! Aber so muss es wohl sein. Nach dem großen Weltveränd­erungspath­os, dem einem Krieg ähnlichen Streit darum, wer eigentlich­er Inhaber der großen Wahrheiten ist, den der Vater mit den drei Söhnen bis zum bitteren Ende führte, nun das Erinnerung­spuzzle aus kleinen Alltagsbeo­bachtungen, Anekdoten, Mutmaßunge­n. Man redet an gegen das Vergessen, das unaufhalts­am, mit jedem, der stirbt, mehr seine dunkle Decke über das legt, was einmal war. Einzug ins und Vertreibun­g aus dem Paradies? Nein, es war die Hölle, sagen die Söhne. Diesem schier unheilbare­n Bruch zwischen den Generation­en widmet sich dieser Film, der im beste Sinne Aufklärung betreibt.

In »Ab jetzt ist Ruhe« hatte Marion Brasch geschriebe­n, wie sehr sie das Leben der Brüder fasziniert hatte, wie sie versuchte, so zu sein wie diese. Zum Glück misslang es ihr, und sie musste sie selbst werden – über Umwege, daher kennt sie Annekatrin Hendel, die ebenfalls Umwege ging. Als Marion Brasch (heute Radiomoder­atorin) Ende der 80er Jahre Sängerin werden sollte, traf sie ihre jetzige Regisseuri­n, die damals Mode entwarf und dann als Ausstatter­in am Theater arbeitete. Zwei Nischenbew­ohner mit Ambitionen. Über ihre Brüder schrieb Marion Brasch: »Ich war stolz, ihre kleine Schwester zu sein, auch wenn sie sich für mein Leben immer weniger zu interessie­ren schienen.«

Thomas Brasch war der Frontmann der Familie. Wie ein Popstar wurde er von den Westmedien nach seinem Weggang (zusammen mit Katharina Thalbach) aus der DDR behandelt. Brasch und Thalbach gehörten 1976 zu den Erstunterz­eichnern des Protests gegen die Biermann-Ausbürgeru­ng. 1977 erschien im Westen Braschs Sammelband »Vor den Vätern sterben die Söhne«. Der Titel bereits war mehr als nur eine Kampfansag­e: eine Absage an die Träume der Vätergener­ation, in denen sich die Söhne gefangen gesetzt fühlten. Über Thomas Brasch, der sich effektvoll zu inszeniere­n verstand, an der eigenen Legende arbeitete, gibt es bereits eindrucksv­olle Filmporträ­ts, etwa von Christoph Rüter, der Brasch in seinen letzten Lebensjahr­en begleitete, dabei seine Selbstzers­törung durch Alkohol und Drogen schonungsl­os dokumentie­rte. Der Funke Genialität, der ihm zum Schicksal wurde, leuchtete dennoch, selbst noch im »Mädchenmör­der Brunke«, dem Endlosfabu­lieren seines (im Ganzen unveröffen­tlicht gebliebene­n) Nachwendew­erks, das kein Werk sein wollte, Tausende Seiten zwischen Wahn und Hellsicht.

Plötzlich sah er sich selbst in der Rolle, die sein Vater Horst Brasch bislang immer spielen musste: der überheblic­he Besserwiss­er, der nun Kaltgestel­lte, der für die Westmedien als Dissident ausgedient hatte, einer, den man besser mied, weil er von gestern war. Dieses Schicksal hatte Thomas Brasch sehr wohl begriffen, aber er wollte und konnte dagegen nicht mehr rebelliere­n. Er zog es vor, abzutauche­n in seine eigene Welt, sein »Bergwerk« aus Traum und Paranoia.

Annekatrin Hendel und ihre Kronzeugin Marion Brasch setzen sehr viel früher an: bei den Kindertran­sporten 1938 aus Nazi-Deutschlan­d nach England. Horst Brasch, katholisch erzogen, für die Nazis dennoch ein Jude, war dafür mit sechzehn Jahren eigentlich schon zu alt, er kam als Betreuer der Kinder mit, was ihm vielleicht das Leben rettete. Bis dahin wollte er Priester werden, stattdesse­n gründete er nun in England die Freie Deutsche Jugend (FDJ). Dort traf er seine spätere Frau Gerda, eine Wienerin, die sich scheute, 1946 mit ihrem Mann und dem ein Jahr zuvor geborenen Sohn Thomas in den Osten Deutschlan­ds zu gehen. Sie blieb vorerst in London, folgt ihrem Mann als überzeugte Kommunisti­n dann aber doch.

Der Film baut akribisch am Lebenstabl­eau der Familie. Da dies unübersich­tlich zu werden droht, werden Fotos schon mal mit den Namen der Dargestell­ten beschrifte­t. Das droht gelegentli­ch zum Geschichts­frontalunt­erricht zu werden, aber der Stoff hat es eben in sich und verlangt ein differenzi­ertes Urteil. Das liefern dann Christoph Hein, Bettina Wegner, Katharina Thalbach oder Florian Havemann. Durch ihre sehr persönlich­en Erinnerung­en bekommt das Tableau Tiefe, wird zum fasziniere­nden Relief einer Kulturland­schaft-Ost. Hier wurden Dramen Shakespear­eschen Ausmaßes gespielt, von denen man sich heute keine Vorstellun­g mehr macht. Söhne gegen Väter, die Staatsmach­t gegen den Einzelnen. Das Projekt DDR war das der Generation Horst Braschs, jede Korrektur daran wehrten sie als feindlich ab, bis nichts mehr zu korrigiere­n war.

Es ist das Drama der Kommuniste­n an der Macht. Die konspirati­ve Umsturzpar­tei und die Kaste der Funktionär­e versagten. Auch Horst Brasch, ein treuer Diener seiner Partei, der Dogmatiker, ein Sieger der Geschichte, wurde erneut zum Opfer. Diesmal seiner eigenen Genossen. Als Westemigra­nt selbst von Mit-FDJ-Gründer Honecker beargwöhnt, reichte es immer nur für die zweite Reihe. Weil Thomas Brasch 1968 Flugblätte­r gegen die Niederschl­agung des Prager Frühlings verteilte und ins Gefängnis kam, verlor Horst Brasch seinen Posten als stellvertr­etender Kulturmini­ster, wurde nach Moskau auf die Parteischu­le geschickt und fand sich schließlic­h als 2. Sekretär der SEDKreisle­itung in Karl-Marx-Stadt wieder. Welch tiefer Sturz! Den hatte er seinen Söhnen, vor allem Thomas, zu verdanken. Tochter Marion erinnert sich mit Schrecken daran. Für das Kind am schlimmste­n: In der Schule in KarlMarx-Stadt musste man Hausschuhe tragen!

Thomas Brasch hörte nicht auf, den Vatermord zu proben. Dass er mit zehn Jahren auf eine NVA-Kadettenan­stalt kam (dass es so was überhaupt gab, glaubt man heute kaum noch) und bleiben musste, obwohl er den Vater anflehte, ihn von dort wegzuholen, verzieh er ihm nie. Für Thomas Brasch war es der Seelenmord eines kommunisti­schen Funktionär­s, der die Vaterliebe in sich begraben hatte, am eigenen Sohn. Marion Brasch erinnert in ihrem Buch allerdings daran, dass es Thomas Braschs eigener Wunsch war, auf die Kadettensc­hule gehen zu dürfen.

Zu den Brüdern gehören auch Klaus, der früh trunksücht­ige Schauspiel­er, der zuletzt in Konrad Wolfs Film »Solo Sunny« zu sehen war und 1980 an einem Alkohol-TablettenC­ocktail starb, und Peter Brasch, der jüngste der Brüder, der wie sein Bruder Thomas vom Schreiben leben wollte, es aber nicht konnte und, ebenfalls schwer trunksücht­ig, 2001 starb. Der Tod des jüngsten Bruders war der letzte schwere Schlag für Thomas Brasch, der ihm im gleichen Jahr folgte.

Warum verstanden sie nicht zu leben, zu überleben? Lauter tief unglücklic­he Menschen, klammerten sie sich an das, was sie für ihre Mission hielten, starben darüber oder daran. Marion Brasch denkt mit klar blickender Nachsicht, auch Zärtlichke­it an ihren vereinsamt­en Vater Horst Brasch (die Mutter starb schon 1975), der ebenso stur wie asketisch lebte und dem sie bis zu seinem Tod im Sommer 1989 vertraut blieb, während die Söhne sämtlich mit ihm brachen, jede Versöhnung verweigert­en. Vielleicht liegt ja darin der Schlüssel, den Frieden mit einer so unfriedlic­hen Geschichte zu machen, die mitten durch jeden hindurch geht, der in sie geworfen wurde?

»Familie Brasch«, Deutschlan­d 2017. Regie: Annekatrin Hendel; Buch: Annekatrin Hendel/Jörg Hauschild. 102 Min.

Es ist das Drama der Kommuniste­n an der Macht. Die Partei und die Kaste der Funktionär­e versagten. Auch Horst Brasch, der Diener seiner Partei, der Dogmatiker, wurde zum Opfer seiner eigenen Genossen.

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Foto: Salzgeber & Co. Medien GmbH Der schier unheilbare Bruch zwischen den Generation­en: die Braschs (Klaus, Peter, Marion, Gerda, Thomas)

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