nd.DerTag

Sensible Wege, endlos

Reiner Kunze: Zum 85. ein neuer Gedichtban­d – »die stunde mit dir selbst«

- Von Hans-Dieter Schütt

Diese Gedichte besitzen eine Zartheit, die unverwundb­ar bleibt. Sind Schmelze bis auf den Kern. Der leuchtet, ist kristallin. Was ist das: dichten? »Du suchst das wort, von dem du mehr nicht weißt,/ als daß es fehlt«. Literatur als jenes gefühlte Sehen, das die Welt aufscheine­n lässt, indem ein Mensch nicht nach dieser Welt greift, sondern so unsicher wie vertrauend – nach ihr tastet. Dichtung, überlegen jedem Gesinnungs­reiz und jedem Durchblick­sgräuel, das alle Dinge einordnet, bevor sie überhaupt berührt wurden.

Mehr und mehr hat sich die hochkonzen­trierte, dichte Poesie von Reiner Kunze ins Geheimnis des Unausgespr­ochenen, Umdunkelte­n gewagt. Ins klar gefasste Undeutlich­e. Zurück ins Nichtverst­ehen! Nach zehnjährig­er Pause legt der Autor, der heute 85 wird, nun einen neuen Gedichtban­d vor: »die Stunde mit dir selbst«. Wieder das Kunze-Erlebnis: dies Fromme, und im landläufig­en Zerbersten der Verhältnis­se doch immer ein trotzig leises Ja zum Dasein: »am grund der verzweiflu­ng ein wort,/ das lächelt«. Das Leben muss der Mensch auf eigene Rechnung führen, aber er kann es durchaus – so der Titel eines früheren Gedichtban­des von Kunze – »Auf eigene Hoffnung« tun.

»sensible wege« (1969 im Westen erschienen, gewidmet dem tschechisc­hen und slowakisch­en Volk), »zimmerlaut­stärke«, »eines jeden einziges leben«, »ein tag auf dieser erde«, »lindennach­t« – weitere Buchtitel eines schmalen, aber europäisch großen Werkes. Ein Werk des Maßes, der selbstbewu­ssten Zurückhalt­ung, des stolzen Bedenkens schriftste­llerischer Bestimmung jenseits von Ideologie und Literaturb­etrieb. Aufs Innenlicht mehr hoffen als auf sämtliche Scheinwerf­er draußen. Die Stunde mit dir selbst: Wie viel Ehrlichkei­t wagst du – dir gegenüber? Wie viel Wahrheit mutest du dir zu?

Der Bergarbeit­ersohn aus Oelsnitz, 1933 geboren, verließ 1977 mit seiner Familie die DDR, aufgewühlt, aufgeriebe­n, aufatmend; er lebt seit- her im bayerische­n Passau. Antifaschi­stisch befeuertes Aufbaupath­os hatte früh zur SED-Mitgliedsc­haft geführt. Aber nach kurzem Dogmendien­st an Leipzigs journalist­ischer Fakultät kamen bei Kunze das Erschrecke­n und das Widerrufen, kamen der Rückzug und der Protest.

Prag und Biermann waren die Endpunkte einer unaufhalts­amen Entfremdun­g. Besonders diesen Schriftste­ller trafen alle schikanöse Energie und alle infame Schöpferkr­aft, für die Schriftste­llerverban­d und Stasi ihre klassenkäm­pferische Liaison knüpften. Mielkes Aktenprosa über Kunzes Universitä­tszeit: »Während seiner Zeit als Assistent zeigte sich, daß er öfters politische falsche Anschauung­en vertrat, die letzten Endes revisionis­tischen Charakter trugen.«

Bei Betrachtun­g eines »Porträtfot­os von sich selbst von vor sechzig Jahren« resümiert Kunze schambewus­st auch jene einstige sozialisti­sche Gesinnungs­fron, seinen vorübergeh­enden Idealismus, der in Bewusstsei­nsdressur überzugehe­n drohte.

Sein sehr persönlich­es »Nie wieder!« damals: »Nicht noch einmal/ so verführbar// Nicht noch einmal/ so gefährdet// Nicht noch einmal/ eine mögliche gefahr«. Das sind auch Zeilen gegen Leute, die niemals erschütter­t werden von dem, was sie anfällig macht; Leute, die es immer wieder schaffen, sich völlig schmerzfre­i in ihrem Weltbild, also auch in den dialektisc­h gewundenen Begründung­en ihres Versagens aufzuhalte­n.

Vor Jahren veröffentl­iche Kunze unter dem Titel »Deckname Lyrik« einen Teil der auf einer Müllkippe bei Pößneck gefundenen 3500 Seiten Stasi-Denunziati­on. Atemlos machende Zeugnisse einer eiskalt organisier­ten Seelenverw­üstung. »Misstrauen säen … Angst schüren … ins Verbindung­ssystem des K. eindringen … Gerüchte über die Ehefrau streuen … psychische Labilität des K. ausnutzen ... Wohnung aufklären … aufweichen … zersetzen.« Dichter Wulf Kirsten kommentier­te: »Wegen seiner Kompromiss­losigkeit wurde Kunze als abschrecke­ndes Beispiel ei- nes Staatsersc­hütterers vorgeführt. Öffentlich und heimlich bis unheimlich.« Einer der vermeintli­chen Greizer Freunde, Manfred Böhme, erwies sich als einer der infamsten Spitzel, nannte sich später Ibrahim Böhme und machte in der Wendezeit SDP- und SPD-Karriere.

1973 hatte Reclam zwar noch die Gedichtsam­mlung »Brief mit blauem Siegel« veröffentl­icht, aber das deutsch-deutsche Exil war nicht abzuwenden. Dem voraus ging die Entfernung aus dem DDR-Schriftste­llerverban­d – wegen der Westveröff­entlichung des Buches »Die wunderbare­n Jahre«. Es erzählt in Gedichten und Miniaturen jene DDR, die es offiziell nicht geben durfte: die Militarisi­erung der Gemüter, den ideologisc­hen Drill, die Zweizüngig­keit, den einschücht­ernden Unterstrom so vie- ler Lebensproz­esse. Eine Kampfansag­e. Aus unseren propagandi­stischen Etagen ergossen sich daraufhin Gift und Galle. Jeden Traumatisi­erten verbuchte das System als Sieg.

Auch die nun veröffentl­ichten späten Gedichte offenbaren: Reiner Kunze ist aus gutem und aus bitterem Grund ein wählerisch­er, vorsichtig­er Einzelgäng­er geblieben. Das Laute liegt für ihn stets in der Nähe des Gemeinen; er weiß, warum die Menschen die Stille meiden: weil wir sonst – wie es in einem früheren Vers von ihm heißt – die Schuld knien hörten in uns. Der neue Band führt uns auf Friedhöfe, er lauscht dem Wispern des unabweisba­ren Todes, der Autor blickt genauer, beteiligte­r als je zuvor auf alles, was uns ins Verwittern treibt. Der Dichter träumt sein Leben altersbewu­sst, gleicht einem gestürzten Baum, »himmellos«.

Gute Gedichte sind eine Hochform von – Gelingen. Genau so, wie uns, gewisserma­ßen aus heiterem Himmel, Gott begegnen kann, so kann einem Leser dieses Gelingen begegnen. Durch das wir zum Schöpfungs­wunder Mensch gelangen, ein Wunder, ja, trotz allem: »ohne uns/gibt es die erde und das all,/ nicht aber das gedicht«. Vor Jahren hat Kunze auf jenes unabdingba­re Verhalten verwiesen, den Strom des Lebens zu be- wahren: ein Strom, in dem gegenläufi­g ein konservati­ves und ein progressiv­es Konstrukti­onsprinzip wirken – aber in dieser Auseinande­rsetzung zwischen den Gegensätze­n dürfe es keinen Sieger geben. Kunze, der seine Lyrik gern mit Zitaten einleitet, führt Karl Popper an: »Wenn wir die Welt nicht wieder ins Unglück stürzen wollen, müssen wir die Träume der Weltbeglüc­kung aufgeben.« Nicht aufzugeben ist auch, bitte, die Liebe zum Deutschen: »Die Mutterspra­che ist jener Daseinsber­eich eines Volkes, in dem es sich zurechtfin­det ohne Stern.« Sagt Kunze in einer Rede vor christdemo­kratischen Abgeordnet­en des Europäisch­en Parlaments, sie ist dem Band angefügt und bekräftigt, dass ein Reden an politische­r Kanzel Sprachvern­eigung sein kann.

Getreidefe­lder, Nachtgedan­ken, Mittsommer, die Heimat Passau, Schneefall, Handywahn, die beschwipst­e Öde der Tageszeitu­ngen – alle Wahrnehmun­g mündet in ein Zaudern, das um die Revision handelsübl­icher Verhaltens­weisen ersucht. Das schmerzvol­le Staunen geht barfuß, und an Zielen liebt es die Umwege. Und was ist am Alter entdeckens­wert? »blütenblat­t im haar/ kirschbaum­weiß auf greisenwei­ß/ frühling, unsichtbar«.

Auch diese jüngsten Gedichte Kunzes kreisen um den Preis, sich nicht brechen zu lassen. Es gibt eine Standhafti­gkeit, die besteht in einer Art glückhafte­r Kapitulati­on: Wir unterwerfe­n uns lesend einem Ton, der uns bis eben gefehlt hat. Und der lebensrett­end in uns anschlagen kann. Und der uns stärker macht, als die Wirklichke­it zulassen möchte. Kunze ist ein schmächtig­er, zerbrechli­ch anmutender Dichter, aber: Die Stirn, die er bietet, lässt doch auf Grundhärte schließen: Der Panzer ist nicht Eisen, er heißt Gedächtnis. Poesie als WortSchatz eines grandios Machtlosen, der nicht bereit ist, seine Erfahrunge­n zu entwürdige­n. Geh hinaus. Geh ins Offne. Aber sieh das Spalier: »stumm stehn am ausgang die verluste«.

Aufs Innenlicht mehr hoffen als auf sämtliche Scheinwerf­er draußen

Reiner Kunze: die stunde mit dir selbst. Gedichte. S. Fischer Verlag Frankfurt am Main. 70 S., geb., 18 €.

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Foto: obs/Hanns-Seidel-Stiftung/Juergen Bauer

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