nd.DerTag

Tschechisc­he Wendehälse

Aert van Riel über das Erbe des Prager Frühlings

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Es ist ernüchtern­d, was 50 Jahre nach dem Ende des Prager Frühlings von der Bewegung übrig geblieben ist. Staatspräs­ident Milos Zeman war einst ein Teil von ihr und wurde deswegen 1970 aus der tschechosl­owakischen KP ausgeschlo­ssen. Mit den Ideen des demokratis­chen Sozialismu­s hat er aber nicht mehr viel am Hut. Zeman nennt muslimisch­e Flüchtling­e »Invasoren« und verzichtet aus Rücksicht auf seine Freunde in Politik und Wirtschaft in Moskau darauf, zum Gedenktag an die Niederschl­agung des Prager Frühlings am 21. August eine öffentlich­e Rede zu halten.

Zeman ist nur ein Beispiel dafür, wie Politiker in Tschechien und in der Slowakei seit dem Untergang des Sozialismu­s auf die nationale Karte setzen und behaupten, dass sie sich um die Sorgen der kleinen Leute kümmern. Ernst zu nehmen ist das nicht. In ihrem kapitalist­ischen Umfeld haben sich Zeman und viele andere Politiker bestens eingericht­et. Dieses Umfeld gibt in Tschechien auch in der Politik direkt den Ton an. Kürzlich hat Zeman den Oligarchen Andrej Babis zum Premier ernannt. Dieser wird von Sozialdemo­kraten und Kommuniste­n unterstütz­t. Damit ist fast alles, was einst in dem Land als links galt, zu einer Farce verkommen. So weit hätte es nicht kommen müssen. Während des Prager Frühlings vertraten die Protagonis­ten Ideen für eine Demokratis­ierung, die den Sozialismu­s und dessen Akzeptanz in der Bevölkerun­g langfristi­g gestärkt hätten – möglicherw­eise auch über 1989 hinaus.

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