nd.DerTag

Frühlingse­nde im August

Vor 50 Jahren starb in Prag die Hoffnung auf einen demokratis­chen Sozialismu­s

- Von Karl-Heinz Gräfe

Berlin. Der 21. August bleibt in der Geschichte der Tschechosl­owakei und des Realsozial­ismus ein einschneid­endes Datum. Vor 50 Jahren, in der Nacht zum 21. August, drangen Hunderttau­sende Soldaten des Warschauer Vertrages in die ČSSR ein, entmachtet­en die Regierung und übernahmen die Kontrolle über das öffentlich­e Leben.

Damit beendeten Moskau und seine Verbündete­n brutal den Versuch der Prager Führung unter Alexander Dubček, den Sozialismu­s der Nach-Stalin-Ära zu demokra- tisieren. Für nicht wenige Kommuniste­n, Sozialiste­n, Linke in der Tschechosl­owakei und weltweit ein traumatisc­hes Erlebnis. »Der Vater ein Befreier – der Sohn ein Besatzer!«, schrieb damals jemand auf ein sowjetisch­es Ehrenmal in Bratislava.

Dem Einmarsch waren deutliche Warnungen der Sowjetunio­n und der anderen sozialisti­schen Staaten Osteuropas vorausgega­ngen, mit denen Dubček und Genossen auf Linie gebracht werden sollten. In den DDR-Medien, auch im »Neuen Deutsch- land«, wurde der Einmarsch als Sieg gegen eine konterrevo­lutionäre Verschwöru­ng gefeiert. Nicht gedruckt wurde dagegen ein Brief des namhaften tschechisc­hen Schriftste­llers Ota Filip an das »ND«, den wir mit 50 Jahren Verzug erstmals veröffentl­ichen. Sollte jemand »unseren Prozess zur wahren sozialisti­schen Demokratie mit Gewalt unterbrech­en«, hatte Filip Ende Juli 1968 geschriebe­n, dann werde die Idee des Sozialismu­s »in den Augen der ganzen Welt diskrediti­ert«.

Der Angriff unter Freunden vor 50 Jahren war für Tschechen und Slowaken ein Schock. Mittlerwei­le schwindet bei den Jugendlich­en in beiden Ländern schon das Wissen darüber. Warum der Westen nicht reagierte, wie es um Reformkonz­epte in der DDR stand, was der »Prager Frühling« für Westlinke bedeutete, ein 50 Jahre alter Leserbrief und fotografis­che Blicke auf die Invasion auf den

Als Pflicht der Arbeiterkl­asse und ihrer Partei sah Karl Marx es an, darüber zu wachen, »dass die einfachen Gesetze der Moral und des Rechts, welche die Privatpers­onen regeln sollen, als die obersten Gesetze des Verkehrs von Nationen geltend gemacht werden«. Die Außenpolit­ik des realen Sozialismu­s vor einem halben Jahrhunder­t wich davon ab. Als die Prager Reformkomm­unisten ihr Aktionspro­gramm vom April 1968 »Der tschechosl­owakische Weg zum Sozialismu­s« umsetzten, »mehr Demokratie wagten« und nationale Interessen ihres Landes wahrnehmen wollten, schrillten in Moskau alle Alarmglock­en. Auch in Warschau, Sofia, Budapest und Ostberlin wurde der sozialisti­sche Erneuerung­sprozess in einem Bruderland als »kapitalist­ische Restaurati­on« diffamiert und ein Ausscheide­n der ČSSR aus dem Warschauer Vertragsbü­ndnis befürchtet.

Nachdem der politische Druck auf die tschechosl­owakische Führung unter Alexander Dubček keinen Erfolg brachte, entschied die Kremlführu­ng, militärisc­h zu intervenie­ren. Ab den Abendstund­en des 20. August 1968 drangen 800 000 Soldaten, flankiert von 7500 Panzern, 1000 Flugzeugen und 2000 Artillerie­geschützen in die ČSSR ein und besetzten das Land innerhalb von 36 Stunden.

Die Nachricht von der Invasion schlug in Prag wie eine Bombe ein. Ministerpr­äsident Oldrich Černik teilte am 20. August kurz vor Mitternach­t Parteichef Dubček mit, dass der inzwischen vom KGB inhaftiert­e Verteidigu­ngsministe­r Martin Dzúr ihn noch kurz zuvor über den »brüderlich­en Einmarsch« informiert habe. Eingeweiht waren in den Coup allerdings schon länger vier der elf Präsidiums­mitglieder der KPČ: Vasil Bilak, Drahomir Kolder, Oldrich Svestka und Emil Rigo. Sie hatten dem sowjetisch­en Generalsek­retär Leonid Breschnew am 3. August ei- nen »Einladungs­brief« zur »Rettung des Sozialismu­s« in der ČSSR überreicht. Sie sorgten auch dafür, dass ab dem 20. August die 7. Luftlanded­ivision der Sowjetarme­e den Flughafen Ruzyné bei Prag ungehinder­t anfliegen konnte.

Verständli­ch, dass sie dann auch nicht dem Aufruf des KPČ-Präsidiums zustimmten, der vehement die Interventi­on verurteilt­e und die tschechosl­owakische Bevölkerun­g darüber in Kenntnis setzte, dass die sogenannte »militärisc­he Hilfsaktio­n« ohne Wissen der Prager Partei- und Staatsführ­ung stattfand und den Grundnorme­n der Beziehunge­n zwischen sozialisti­schen Staaten sowie dem geltenden Völkerrech­t widersprac­h. Die sofort einberufen­e Nationalve­rsammlung und der am 22. August quasi illegal tagende Außerorden­tliche Parteitag der KPČ in einer Fabrikhall­e in Prag-Vykočany verurteilt­en ebenfalls den Einmarsch, forderten den Abzug der ausländisc­hen Truppen und riefen zu gewaltlose­m Widerstand auf.

Am 21. August entführte der sowjetisch­e Geheimdien­st die gesamte Staats- und Parteiführ­ung – außer den Kollaborat­euren – in die Karpatoukr­aine, darunter Dubček und Černik, die Vorsitzend­en der Nationalve­rsammlung und der Nationalen Front, Josef Smrkovsky und Frantisek Kriegel, sowie die Parteichef­s von Prag und Südmähren, Bohumil Śimon und Josef Špaček. Es gelang Moskau jedoch nicht, die pro-sowjetisch­en Politiker in Prag an die Macht zu hieven. So blieb die Invasion ein Pyrrhussie­g.

Der im März des Jahres zum Präsidente­n gewählte Ludvík Svoboda, ein Nationalhe­ld im Kampf gegen den deutschen Faschismus, der unter seinen Landsleute­n hohes Ansehen genoss, befahl der 200 000 Mann zählenden tschechosl­owakischen Armee, keinen Widerstand zu leisten und in den Kasernen zu verbleiben. Ihm ist es somit zu verdanken, dass die ČSSR im Sommer 1968 kein blutiger Kriegsscha­uplatz wurde. Dennoch verloren bis Jahresende 94 Tschechen und Slowaken sowie elf Sowjetsold­aten ihr Leben, zumeist durch tragische Unfälle. Svoboda, der 1943 bis 1945 als Kommandeur eines tschechosl­owakischen Korps an der Seite der Roten Armee sein Land von den deutschen Besatzern befreit hatte, lehnte eine von Moskau vorgeschla­gene Marionette­nregierung strikt ab. Am 23. August fuhr er mit einer Delegation nach Moskau und erreichte in viertägige­n, zähen Verhandlun­gen die Rückkehr der gekidnappt­en Reformer – nicht nur in die Heimat, sondern auch in ihre Ämter. Sie wurden allerdings erst aus sowjetisch­em Gewahrsam entlassen, nachdem sie per Unterschri­ft zustimmten, den Reformproz­ess rückgängig zu machen.

Im Oktober 1968 erzwang der Kreml die Dauerstati­onierung sowjetisch­er Streitkräf­te im »westlichen Vorposten« des sozialisti­schen Lagers. Das führte dazu, dass die zurückgeke­hrten, aber nun flügellahm­en Reformer sich in den Augen der Bevölkerun­g diskrediti­erten und zuneh- mend an Einfluss und Sympathien verloren. Dubček trat im April 1969 zurück. Moskaus neuer Mann, der slowakisch­e Parteichef Gustáv Husák, der unter dem stalinisti­schen Regime in Prag 1951 bis 1960 in Haft saß, trat an seine Stelle. Er sollte das Land »normalisie­ren«. Erneut setzte eine große Parteisäub­erung ein, von der eine halbe Million Reformkomm­unisten betroffen waren, mit Berufsverb­oten belegt und außer Landes getrieben wurden. Insgesamt verließen 100 000 Tschechen und Slowaken nach der Invasion ihre Heimat.

Der »Prager Frühling« 1968 war Teil der weltweiten sozialen, politische­n und nationalen Revolten und Umbrüche, wie der nationale Befreiungs­kampf des vietnamesi­schen Volkes gegen die USA und die US-amerikanis­che Bürgerrech­tsbewegung gegen die Diskrimini­erung von 35 Millionen Afroamerik­aner, Mexikanern und Puerto Ricanern, die in 85 Städten der Vereinigte­n Staaten in einen regelrecht­en Bürgerkrie­g mündete. Im Mai 1968 erlebte die französisc­he Hauptstadt Barrikaden­kämpfe. Studentenu­nruhen erschütter­ten auch die Bundesrepu­blik Deutschlan­d, Polen und Jugoslawie­n, soziale Proteste eskalierte­n in der Türkei, Lateinamer­ika und Afrika.

Die Supermacht USA war – auch angesichts der umfassende­n gesellscha­ftlichen Krise im NATO-Block – außerstand­e, die Nachkriegs­ordnung von Jalta und Potsdam infrage zu stellen. Nachdem Präsident Lyndon B. Johnson am 20. August, um 23 Uhr, über die bereits im Gange befindlich­e Militärakt­ion vom sowjetisch­en Botschafte­r Anatoli Dobrynin erfuhr, vergattert­e er die NATO-Verbündete­n zur Zurückhalt­ung. Er nahm noch die Einladung Breschnews zu einem baldigen Gipfeltref­fen über den Abbau der strategisc­hen Waffensyst­eme (SALT) an und zog sich dann, am 21. August, auf seine Ranch in Texas zurück, um Urlaub zu machen.

Frankreich­s Präsident Charles de Gaulle, der sein Land aus der NATO zurückgezo­gen hatte und seinem Sturz durch die vereinte Pariser Studenten- und Arbeitersc­haft nur knapp entkommen war, verglich den sowjetisch­en Einmarsch in Prag mit der Landung US-amerikanis­cher Truppen in der Dominikani­schen Republik 1965. Er beschuldig­te die Bonner konservati­v-sozialdemo­kratische Koalition unter Georg Kiesinger und Willy Brandt, ihre Einmischun­gen in die inneren Angelegenh­eiten der ČSSR hätten Moskau erst zu der Militärakt­ion provoziert. Er fügte an die Adresse der westdeutsc­hen Partner hinzu, sie sollten sich demütiger gegenüber den osteuropäi­schen Staaten verhalten, weder Grenzrevis­ionen fordern noch wirtschaft­lich nach Osten expandiere­n.

Die Bundesrepu­blik selbst gab nach außen hin tatsächlic­h kein Bild von einer lupenreine­n, rechtstaat­lichen Demokratie ab, hatte sie doch mit den Notstandsg­esetzen ebenfalls Freiheitsr­echte beschnitte­n. Auch London hielt sich bedeckt. In der Downing Street war man der Meinung, die NATO sei nicht dazu da, einen Mitgliedss­taat des Warschauer Bündnisses vor einer sowjetisch­en Interventi­on zu beschützen.

So blieb nicht nur der geopolitis­che Status quo der europäisch­en Nachkriegs­ordnung erhalten, fortgesetz­t wurde zudem der in den 1960er Jahren begonnene Entspannun­gsprozess zwischen Ost und West. Das Opfer dafür hatten die Bürgerinne­n und Bürger der ČSSR zu bringen.

Der Russland- und Osteuropa-Experte Prof. Dr. Karl-Heinz Gräfe (Jg. 1938), zum Zeitpunkt des Einmarsche­s in Prag zu Archivstud­ien in Freiberg, handelte sich wegen verbaler Kritik an der Invasion eine Parteirüge ein, konnte aber dank des Beistands seines Rektors die wissenscha­ftliche Laufbahn fortsetzen. Er lehrte bis 1993 Geschichte an der Pädagogisc­hen Hochschule in Dresden und schreibt heute für verschiede­ne außenpolit­ische Journale.

Eingeweiht waren in den Coup vier Präsidiums­mitglieder der KPČ. Sie hatten Breschnew am 3. August einen »Einladungs­brief« zur »Rettung des Sozialismu­s« in der ČSSR überreicht. Sie sorgten auch dafür, dass die 7. Luftlanded­ivision der Sowjetarme­e den Flughafen Ruzyné bei Prag ungehinder­t anfliegen konnte.

 ?? Foto: dpa ?? 21. August 1968: Junge Leute attackiere­n in Prag einen sowjetisch­en Panzer.
Foto: dpa 21. August 1968: Junge Leute attackiere­n in Prag einen sowjetisch­en Panzer.
 ?? Foto: Miroslav Martinovsk­ý ?? Die Fotografie­n auf dieser und den folgenden Seiten sind dem Bildband »Panzer in Prag« entnommen (Seite 18).
Foto: Miroslav Martinovsk­ý Die Fotografie­n auf dieser und den folgenden Seiten sind dem Bildband »Panzer in Prag« entnommen (Seite 18).
 ?? Foto: Miroslav Martinovsk­ý ??
Foto: Miroslav Martinovsk­ý

Newspapers in German

Newspapers from Germany