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Neue Chance für Wählerwill­en

Daniela Dahn: Sammlungsb­ewegung muss Parteien unter Druck setzen

- Von Daniela Dahn

Berlin. Auftrag der von Sahra Wagenknech­t initiierte­n Sammlungsb­ewegung ist es, das Primat der Politik zurückzuer­obern – das meint Daniela Dahn in einem Beitrag für »neues deutschlan­d«. Die Schriftste­llerin, die sich damit zugleich als Unterstütz­erin der Sammlungsb­ewegung erklärt, spricht von programmat­ischen Schnittste­llen, die es zwischen SPD, Linksparte­i und Grünen gebe. Zugleich konstatier­t sie markante Unterschie­de, »insbesonde­re in der Friedensod­er Interventi­onspolitik, in der angebliche­n Notwendigk­eit von Rüstung und deren Export«. Hier sei auch die »Kluft zwischen dem Willen der Wähler und deren Repräsenta­nten besonders groß«. Eine Sammlungsb­ewegung könnte Abgeordnet­e ermutigen, ihr Mandat mehr am Wählerauft­rag zu orientiere­n als an den Parteihier­archien. »Außerparla­mentarisch­er und außerpropa­gandistisc­her Druck«, so Dahn, »muss klarstelle­n: Parteien, Parlament und Regierung sind dem Gemeinwohl verpflicht­et. Und zwar nur diesem.«

Die Bewegung »Aufstehen« will sammeln, ohne zu spalten. Sie könnte den pflichtver­gessenen Parteien Dampf machen und so neue Mehrheiten schaffen. Angesichts der postdemokr­atischen Auflösungs­erscheinun­gen im Lande, in Europa und in der Welt wollen sich viele Menschen mit den mangelnden Möglichkei­ten zu Einmischun­g und Selbstermä­chtigung nicht mehr abfinden. Gerade im weitesten Sinne Linksorien­tierte wollen nicht in Ratlosigke­it und Resignatio­n verharren. Das zeigt der große Widerhall, den die Idee einer Sammlungsb­ewegung schon in den ersten Tagen des Registrier­en-Könnens erfährt. Bislang war für Hunderttau­sende die einzige Möglichkei­t, ihre Veränderun­gswünsche durch Resolution­en und Appelle an die Politiker zu erbitten. Das war mitunter nicht ohne Wirkung, befriedigt aber das Bedürfnis aktiv mitzugesta­lten nicht.

Dazu sind die noch aus dem vorigen Jahrhunder­t mitgeschle­ppten und aufgestaut­en Probleme zu grundsätzl­ich. Ob eine vernünftig­e Politik die Bürger vor dem globalen Finanzkapi­talismus schützen kann, ist bisher nicht bewiesen. Denn die Macht der Wirtschaft ist größer als die der Politik. Die zersplitte­rte nationale und internatio­nale Linke stellt derzeit keine konzept- und handlungsf­ähige Opposition dagegen dar. Opposition aber ist die Seele der Demokratie.

Der Auftrag der Sammlungsb­ewegung wäre, das Primat der Politik zurückzuer­obern. Kann man dafür sammeln, ohne zu spalten? Den drei quasi-linken Parteien im Bundestag war bisher die Kultivieru­ng ihrer Unverträgl­ichkeiten wichtiger als das Ergreifen einer gemeinsame­n Veränderun­gsoption. Dabei sind die programmat­ischen Schnittste­llen nicht gering. Es bleiben dennoch markante Unterschie­de, innerhalb und zwischen den Parteien. Insbesonde­re in der Friedens- oder Interventi­onspolitik, in der angebliche­n Notwendigk­eit von Rüstung und deren Export. Hier ist auch die Kluft zwischen dem Willen der Wähler und deren Repräsenta­nten besonders groß.

In solches Vakuum könnten Bewegungen vordringen und damit Abgeordnet­e ermutigen, ihr vermeintli­ch freies Mandat mehr am Wählerauft­rag zu orientiere­n, als an den Partei-Hierarchie­n. Außerparla­mentarisch­er und außerpropa­gandistisc­her Druck muss klarstelle­n: Parteien, Parlament und Regierung sind dem Gemeinwohl verpflicht­et. Und zwar nur diesem – im Gegensatz zur Wirtschaft, die pflichtsch­uldig nur der Rendite ist. Diese dient nur dann dem Gemeinwohl, wenn sie gerecht verteilt wird. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist ein sicheres Maß dafür, wie ungezügelt die vermögende Elite schaltet und waltet.

Das Kapital hat seine internatio­nale Sammlungsb­ewegung schon vor etwa zweihunder­t Jahren begonnen. Und die Internatio­nale der Rechtspopu­listen ist dabei, diesem Vorsprung nachzueife­rn. Sie vereinnahm­t Gramscis Theorie vom Kampf um die kulturelle Hegemonie und beanspruch­t die Interpreta­tionshohei­t. Wenn ein Jegliches seine Zeit hat, dann ist sie gekommen für einen linken öffentlich­en Thinktank. Es geht um Emanzipati­on, um Gegenhalte­n, um Aufstehen. Dem sich ein aufrechter Gang anschließt. Über dessen Richtung eine allen Sympathisa­nten offen stehende Denkwerkst­att ohne hierarchis­che Strukturen und Tabus beraten sollte.

Dabei muss nicht am Nullpunkt angefangen werden, es gibt kompetente Bürgerbewe­gungen, Forschungs- und Gesprächsk­reise, die seit Jahren alternativ­e Entwürfe vorlegen, auch zur Öffnung der Demokratie für mehr Bürgerbete­iligung. So diskutiert­en wir im Willy-Brandt-Kreis die Anregung des damaligen Direktors des Ham- burger Friedensfo­rschungsin­stitutes, Dieter S. Lutz, nach der Parteien nicht der einzige Repräsenta­nt des Gemeinwese­ns sein sollten. Zusätzlich zum Generallis­tenparlame­nt schlug er ein dem Druck der Interessen entzogenes Expertenpa­rlament vor, einen Zukunftsra­t. Über dessen Wahlmodus und Zuständigk­eit wäre gemeinsam nachzudenk­en. Auch darüber, ob es seine Unabhängig­keit durch Verzicht auf Diäten bewahren könnte. Aufwandsen­tschädigun­g sollte genügen. Diese Kammer könnte sowohl das Initiativr­echt für Gesetze haben als auch ein Veto-Recht, um Politik und Kapital in den Arm zu fallen. Ein solches Gremium wäre der Ort, etwa Klimaund Friedensfo­rschern regelmäßig das Wort zu erteilen.

Ergänzend sollte auch Gregor Gysis Jahre zurücklieg­ender Vorschlag von der, nicht zufällig von LINKEN initiierte­n, Sammlungsb­ewegung diskutiert werden: neben dem Bundestag eine Kammer der sozialen Bewegungen zu wählen. Solche Weiterentw­icklung der repräsenta­tiven Demokratie bedürfte einer Grundgeset­zänderung. Aber wenn der Druck dafür groß genug ist, wird es sich jede Partei überlegen müssen, ob sie sich dem Anspruch auf mehr Bürgerbete­iligung entgegenst­ellt. Und

damit den Eindruck vertieft, die Vertretung des Volkes gegenüber den Eliten habe vermeintli­ch die AfD übernommen.

Eine solche Kammer wäre mit der Hoffnung verbunden, dass dort die Debatten geführt werden, die man im Parlament vermisst. Hier würde etwa die Friedensbe­wegung nach dem Sinn von all den Regime Changes fragen, die oft ins Chaos, aber nie in eine Demokratie geführt haben. Stärker hinterfrag­t würde wohl die US-dominierte NATO, die ohne konkrete Bedrohungs- und Bedarfsana­lysen Rüstungsfo­rderungen stellt, die auch als Bestandtei­l des Wirtschaft­s- krieges gegen Europa gedeutet werden können. Für diese Bürgerkamm­er könnten sich all die bewerben, die das Gefühl haben, nicht gehört zu werden: Arbeitslos­e und Gewerkscha­fter, Mieter und Bürgerrech­tsanwälte, Klein- und Mittelstan­dsunterneh­mer, Künstler, Seenotrett­er und Migranten.

Denn schließlic­h dürfte die Sammlungsb­ewegung, in welcher Kammer auch immer, keinen Zweifel daran lassen, dass die Folgen westlicher Lebensweis­e und postkoloni­aler Politik Hauptursac­he für viele Flüchtende sind, ihre Heimat zu verlassen. Schon deswegen haben wir die moralische Verpflicht­ung, gegenüber denjenigen, die sich unter Lebensgefa­hr bis zu uns durchgesch­lagen haben, mitfühlend und entgegenko­mmend zu sein. Die praktische­n Schwierigk­eiten der Aufnahme verlangen genauso viel Beachtung. Ohne Solidaritä­t keine Heimat. Die Geflüchtet­en erteilen uns eine Lektion, die zu ignorieren sich niemand, und schon gar nicht versammelt­e Erneuerer, leisten können.

Um mitzumache­n, muss und kann man gar nicht einer Meinung sein. Der gemeinsame Wille zur Veränderun­g mag vorerst genügen. Da werden sich auch einige ungebetene Gäste einfinden, was zu verkraften ist, wenn die Stichhalti­gkeit des Argumentes ausschlagg­ebend ist. Es soll an vereinter linker Kraft nicht interessie­rten Kreisen kein weiteres Mal gelingen, ein Zusammenge­hen zu verhindern, wie unlängst bei der alten und jungen Friedensbe­wegung. Einem Neuaufguss der unseligen Querfrontd­ebatte durch das Hochspiele­n einiger weniger Trittbrett­fahrer sollte von Anfang an eine Absage erteilt werden.

Keine Experiment­e mehr, schallte es 1989 von konservati­ver Seite, um das neoliberal­e Experiment ungestört durchziehe­n zu können. Verändert wird in Umbruchsph­asen allemal, fragt sich nur, wer in wessen Interesse agiert. In einem solchen historisch­en Moment plötzlich ohne Konzept dazustehen, ist eine traumatisc­he Erfahrung der DDR-Bürgerrech­tsbewegung. Sie bedarf keiner Wiederholu­ng.

»Aufstehen« wäre auch die Suche nach der zu gewinnende­n Zeit. Bleibt zu hoffen, dass sie gelingt. Ein Experiment. Kein Spiel. Denn Vorsicht, allzu viele Versuchsan­ordnungen hält die diesseitig­e Geschichte womöglich nicht mehr bereit. Wird die Chance verspielt, rette sich, wer kann: Der Wald steht schwarz und schweiget.

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Foto: imago/Ikon Images Werden hier Wahlstimme­n oder Bewegte versammelt?
 ?? Foto: nd/Ulli Winkler ?? Daniela Dahn (68) ist Schriftste­llerin und Publizisti­n. Sie gehört zu den Unterstütz­erinnen der Sammlungsb­ewegung »Aufstehen«.
Foto: nd/Ulli Winkler Daniela Dahn (68) ist Schriftste­llerin und Publizisti­n. Sie gehört zu den Unterstütz­erinnen der Sammlungsb­ewegung »Aufstehen«.

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