Vorbereitung für die Tarifflucht
Sebastian Bähr über die Sorgen der Beschäftigten von Aldi Nord
2014 knallte Aldi Nord seinen 36 000 Mitarbeitern neue Arbeitsverträge auf den Tisch. Darin: eine Klausel, die die Option einer Tarifflucht beinhaltet. Es wurde gemurrt – doch mit dem Köder einer elektronischen Zeiterfassung, Schikanen gegen Verweigerer und arbeitgeberfreundlichen Betriebsräten konnte die Konzernleitung die Mehrheit zu einer Unterschrift bringen. Einige Mutige verweigern sie bis heute. Diese Beschäftigten verweisen auf die unhaltbare Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen durch die neuen Verträge und die Gefahren durch eine Kündigung des Tarifvertrags. Auch wenn ver.di und die Aldi-Nord-Führung letztere zur Zeit nicht kommen sehen, sollte man die kämpferischen Mitarbeiter ernst nehmen.
Tarifflucht und Lohndumping haben zu einer brutalen Abwärtsspirale in der Einzelhandelsbranche geführt. Die Auslagerung aller Mitarbeiter von Real im Frühjahr ist nur der bislang letzte Akt. Falls Aldi Nord wirklich aus dem Tarifvertrag mit ver.di aussteigen sollte, würden wohl bald Aldi Süd, die Konkurrenten Lidl und Kaufland sowie weitere nachziehen.
Das Einzige, was ein weiteres Drehen der Spirale verhindern kann, sind Wachsamkeit, starke Gewerkschaften und die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen. Wenn dem Gesetzgeber die über drei Millionen Einzelhandelsbeschäftigten etwas bedeuten, sollte er sich dafür einsetzen.
Im Frühjahr kündigte Real seinen Zukunftstarifvertrag mit ver.di. Die Branche ist besorgt. Mitarbeiter von Aldi Nord befürchten nun auch, dass ihr Konzern auf einen schlechteren Haustarifvertrag umsteigen will. Im Einzelhandel grassiert eine dramatische Tarifflucht. Immer häufiger fühlen sich Arbeitgeber nicht mehr an die Sozialpartnerschaft gebunden. Nach vielen anderen hatte zuletzt im Frühjahr die Kette Real einen Zukunftstarifvertrag mit ver.di aufgekündigt, ihre 34 000 Mitarbeiter ausgelagert und den Arbeitgeberverband gewechselt. Im Vergleich mit dem kriselnden Real geht es dem Konzern Aldi Nord wirtschaftlich noch relativ gut. Mitarbeiter und Betriebsräte des Discounters befürchten nun jedoch ebenfalls, dass neue Arbeitsverträge eine Aufhebung des Tarifvertrages mit der ver.di vorbereiten könnten.
Bisher ist Aldi Nord über seine Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband HDE – wo zuvor auch Real war – an den Tarifvertrag mit ver.di gebunden. 2014 hatte die Geschäftsführung neue Arbeitsverträge und Betriebsvereinbarungen vorgelegt. Der Streitpunkt: In den neuen Arbeitsverträgen heißt es, Tarifverträge werden nur angewendet, »solange der Arbeitgeber tarifgebunden ist«. Laut einem Urteil des Bundesarbeitsgerichtes von 2001 können Unternehmen erst die Tarifbindung verlassen, wenn sie die Option zuvor in Arbeitsverträgen erwähnt haben.
»Im Falle einer Beendigung der Tarifbindung des Arbeitgebers«, so eine weitere Passage, würde zudem die »bestehende Vergütungshöhe weitergelten«. Löhne und Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld wären damit eingefroren. Die Verträge erwähnen auch explizit die Option eines Haustarifvertrags.
Die offensichtliche Gefahr: Aldi Nord sucht sich eine kleine arbeitgeberfreundliche Gewerkschaft, um einen Haustarifvertrag abzuschließen, der im Endeffekt schlechtere Löhne und Arbeitsbedingungen bedeutet. Die Befürchtung ist nicht aus der Luft gegriffen: Real hatte sich nach der Kündigung des ver.di-Zukunftsvertrages mit der christlichen Gewerkschaft DHV eingelassen, um die Löhne neuer Mitarbeiter massiv zu senken. Nach einem Beschuss des Bundesarbeitsgerichts vom Juni steht die Tariffähigkeit der DHV auf der Kippe – aufgrund weniger Mitglieder und geringer Organisationsstärke.
»Aldi Nord war und ist seit je her tarifgebunden und wird es auch bleiben«, heißt es in einer Stellungnahme des Konzerns. Laut Günter Isemeyer, Sprecher des ver.di-Bundesvorstands, droht zumindest keine akute Gefahr. »Bis heute gibt es keine Anzeichen dafür, dass mit den neuen Arbeitsverträgen eine Tarifflucht vorbereitet werden soll«, sagte der Sprecher gegenüber »nd«. Man sei aber »hochsensibilisiert«.
Aldi Nord verweist darauf, dass keinem Mitarbeiter ein neuer Arbeitsvertrag aufgezwungen werde. Angestellte und Betriebsräte beklagen jedoch einen massiven Druck der Geschäftsführung, um zu unterschreiben. Filialleiterin Carolina Matzke erklärte jüngst gegenüber dem »Spiegel«, dass ihr die Kündigung nahegelegt wurde, als sie den Vertrag nicht unterzeichnen wollte. Nun erhalte sie fünfmal mehr Ware als üblich, ihr Laden werde »zugestopft«.
Betriebsräte berichten demnach von Drohungen, dass im Falle einer Verweigerung Filialen geschlossen, Fuhrparks ausgegliedert oder Standorte geschlossen werden sollen. Die Konzernführung versuche es ebenso mit Ködern: Die von der Belegschaft geforderte elektronische Zeiterfassung werde nur eingeführt, wenn 90 Prozent der Mitarbeiter die neuen Verträge unterschreiben. Mehrere kritische Mitarbeiter haben sich unter dem Namen »Die Dissidenten« zusammengeschlossen, Dutzende lassen sich juristisch vertreten. »Natürlich wurde von der Aldi-Nord-Geschäftsführung Druck auf Betriebsräte ausgeübt, wir können eine aggressive Vorgehensweise bestätigen«, erklärte Isemeyer. »Aldi Nord ist kein betriebsratsfreundliches Unternehmen.«
Das Problem der »Dissidenten«: 31 von 33 Betriebsräten des Konzerns haben mittlerweile den neuen Arbeitsverträgen zugestimmt. Und nur fünf Betriebsräte werden von ver.di geführt. »Es wäre schön, wenn alle Betriebsräte geschlossen die neuen Arbeitsverträge nicht unterschrieben hätten«, so Isemeyer. »Die anderen Betriebsräte werden zum Teil jedoch von der gelben Gewerkschaft AUB geführt oder sind sehr geschäftsführerfreundlich – diese haben den neuen Arbeitsbedingungen schnell zugestimmt.«
Ver.di hat die Möglichkeit einer Klage gegen die Betriebsvereinbarungen geprüft, die Chancen sehen die Anwälte jedoch als gering an. »Aldi Nord bewegt sich am Rande der Legalität«, meint Isemeyer. Es brauche nun eine stärkere gewerkschaftliche Organisierung der Beschäftigten. »In einem Unternehmen, dass gewerkschaftliche Positionen diskreditiert, ist es natürlich schwerer, Mitglieder zu mobilisieren.« Ver.dis Aufgabe sei es, diese Herausforderung anzunehmen.