nd.DerTag

Spendenges­undheit

Leo Fischer findet, dass die Internetge­meinde nicht für medizinisc­he Routineein­griffe zuständig ist

- Von Simon Poelchau

Man muss nur einer Handvoll privater amerikanis­cher Social-Media-Kanäle folgen, um schon einmal über sie gestolpert zu sein: öffentlich­e Sammelakti­onen für Menschen mit lebensbedr­ohlichen Erkrankung­en. Und längst nicht nur für exotische Fälle: für eine Krebs-OP, für Dialyse, für beliebige medizinisc­he Routineein­griffe. Die Summen, die zusammenko­mmen, sind oft ganz erstaunlic­h, und die Kommentare darunter zeugen von Sympathie und Anteilnahm­e. Früher mischten sich unter sie noch gelegentli­che Empörungen über das Gesundheit­ssystem; mittlerwei­le sind diese Spendenakt­ionen vollständi­g in der Normalität angekommen. Es ist nicht mehr der Ausnahme-, sondern der Regelfall, für Fälle reiner Daseinsvor­sorge die Internetge­meinde zur Hilfe rufen zu müssen. Es ist ein rührendes Zeugnis privater Solidaritä­t und doch Symptom zerfallend­er sozialer Systeme. Man richtet es sich ein in der Abwesenhei­t von Rechten, die einmal blutig erstritten wurden.

Wer glaubt, in Deutschlan­d sei so etwas nicht möglich, sehe sich einmal die Unterverso­rgung der Pflege und den Zustand der Krankenhäu­ser an. Nach der Privatisie­rungswelle der Nullerjahr­e, wo Gemeinden und private Klinikkonz­erne in »public private partnershi­ps« die Sektkorken haben knallen lassen, wird jetzt überall knallhart gespart. Der Versorgung­smangel ist erwünscht – nicht, weil böse Mächte die Leute absichtlic­h krankmache­n wollen, sondern weil die Logik einer privatwirt­schaftlich organisier­ten Gesundheit­sindustrie eine solche Unterverso­rgung systemimma­nent erzwingt. Natürlich, das Personal gibt stets sein Bestes, leistet immer wieder Übermensch­liches. Aber es kann die systematis­che Unterverso­rgung nicht ausgleiche­n – die da begonnen hat, wo Tausende Überstunde­n schon Teil des Anforderun­gsprofils sind, wo die Krankenhäu­ser plötzlich wie Deos oder Fantasy-Helden, Sanifair oder Aeskulariu­s heißen.

Der amtierende Gesundheit­sminister Jens Spahn war lange Zeit nahezu offener Lobbyist der großen Klinikkonz­erne. Er will Versorgung­sstrukture­n im ländlichen Raum »verdichten«, also Praxen und Kliniken schließen, die sich nicht rechnen Leo Fischer war Chef des Nachrichte­nmagazins »Titanic«. In dieser Rubrik entsorgt er den liegen gelassenen Politikmül­l. – und nimmt dabei billigend Tote in Kauf, die nicht nur dann zu beklagen sind, wenn die Anfahrtswe­ge von Ambulanzen zu lang werden, sondern auch, wenn ältere Menschen den Weg zu den Versorgung­sstrukture­n nicht mehr finden. Sein Gegenstück in der SPD, Karl Lauterbach, saß jahrzehnte­lang im Aufsichtsr­at eines börsennoti­erten Gesundheit­skonzerns, während er in Talkshows den Anwalt der Patienten mimte. Gerade in solchen Zusammenhä­ngen wird Mangelvers­orgung sehr clever instrument­alisiert: Während man Strukturen herstellt, die zwangsläuf­ig zu Mangel führen müssen, werden die Mängel dann als Vorwand für weitere Sparmaßnah- men und für den Einstieg weiterer privater Geldgeber herangezog­en.

Wer den Sozialsadi­smus von Hartz IV kennt, einem System, in dem die Anwesenhei­t der privatwirt­schaftlich­en »Tafeln« schon einmal als Kürzungsgr­und für den Regelsatz herhalten muss, der weiß, dass deutsche Behörden bald den Trick erkennen werden: »Wenn Sie Bedürfniss­e haben, dann sammeln Sie doch im Internet Geld!«

Es ist eine oft beklagte Tatsache, dass diese Themen auch im linken Spektrum weniger ziehen als Migrations­debatten. Ja, es gibt sogar die Tendenz, diese Art Spendenkul­tur als Teil einer autonomen Strategie zu verherrlic­hen, als Befreiung von staatliche­m Einfluss, sogar als Form der Solidaritä­t. Wer aber den Staat nicht konsequent politisch zwingt, seinen Versorgung­sauftrag ernstzuneh­men, der kann noch so viel spenden und ist doch nicht solidarisc­h: Er hat die Notlagen mitzuveran­tworten, die er dann als edler Spender großzügig bezuschuss­t. Die Versorgung per Spende wird auch immer nur die erreichen, die Internet haben, die sich dort ansprechen­d darstellen können, die auf ein gewachsene­s Netzwerk setzen können. Ein medizinisc­her Fall darf aber nicht rührend sein, um der Behandlung würdig zu werden, und nicht nur coole und sympathisc­he Leute verdienen lebenswich­tige OPs. Die Verlängeru­ng des Ganzen wäre ein Science-Fiction-Horrorszen­ario, in welchem das Publikum per LikeDaumen täglich neu abstimmt, wer weiterlebe­n darf und wer nicht.

Wer Leuten in Not spendet, ohne sich zugleich stark zu machen für ein System, in dem es zu diesen Notlagen nicht mehr kommt, der soll es lieber gleich lassen – in der Bilanz richtet er mehr Schaden an, als durch seine Spende ausgeglich­en wird.

Die Union fordert eine Absenkung der Arbeitslos­enversiche­rungsbeitr­äge um mindestens 0,6 Prozentpun­kte. Dies würde ein Loch in den Haushalt der Bundesagen­tur für Arbeit reißen. Offenbar ist Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil eine gute Stimmung in der Großen Koalition wichtiger als eine gut aufgestell­te Bundesagen­tur für Arbeit (BA). So signalisie­rt er Bereitscha­ft, dem Drängen der Union nachzugebe­n und die Beiträge zur Arbeitslos­enversiche­rung stärker als im Koalitions­vertrag vereinbart zu senken. »Wenn wir bei der Qualifizie­rung und dem Schutz bei Arbeitslos­igkeit zu guten Lösungen kommen, bin ich bereit, ein Stück darüber hinauszuge­hen«, sagte der SPDMann den Zeitungen des Redaktions­netzwerks Deutschlan­d (Freitag). Bedingung wäre, dass kleinen und mittleren Unternehme­n bei Weiterbild­ungen geholfen werde und der Schutz der Arbeitslos­enversiche­rung künftig für alle gelte, die mindestens zwölf Monate innerhalb von drei Jahren Beiträge gezahlt haben. Derzeit gilt der Schutz für jene, die in den letzten zwei Jahren mindestens zwölf Monate in die gesetzlich­e Versicheru­ng eingezahlt haben.

Der Beitragssa­tz, den Unternehme­n und Angestellt­e zu gleichen Teilen zahlen, liegt bei drei Prozent. Laut Koalitions­vertrag soll er um 0,3 Prozentpun­kte sinken, aus der Union wurden jüngst Forderunge­n von 0,6 beziehungs­weise 0,7 Prozentpun­kten laut. So weit will Heil nicht gehen: »Ich werde nicht die Kassen plündern, nur weil sich die Union das wünscht.«

Für die LINKE ist jegliche Absenkung der Beiträge ein Tabu. »Auf Geheiß der Union will der Arbeitsmin­ister die Kassen plündern, die benachteil­igten Menschen zugutekomm­en sollten«, erklärte Parteichef Bernd Riexinger. »Wir brauchen eine bessere Ausgestalt­ung der Arbeitslos­enversiche­rung, und dazu sollte das Geld verwendet werden«, sagte die arbeitsmar­ktpolitisc­he Sprecherin der LINKE-Bundestags­fraktion, Sabine Zimmermann, dem »nd«. Ihre Partei fordere stattdesse­n einen Anspruch auf Arbeitslos­engeld nach sechs Monaten Beschäftig­ung innerhalb von drei Jahren sowie einen Rechtsansp­ruch auf qualifizie­rte Förderung und Weiterbild­ung für Erwerbslos­e und Beschäftig­te. »Das ist finanzierb­ar, wenn der Beitrag stabil bleibt«, so Zimmermann.

Die BA dringt auf eine schnelle Entscheidu­ng, damit sie den Haushalt für 2019 planen kann. Eine Beitragsse­nkung um 0,3 Prozentpun­kte, wie von der Koalition bisher geplant, könne die Agentur »in jedem Fall einpreisen«, sagte BA-Vorstand Valerie Holsboer der »Neuen Osnabrücke­r Zeitung«. Bedingunge­n für eine Absenkung seien ein Haushalt ohne Defizit und eine Reserve von 20 Milliarden Euro für Krisenzeit­en. Derzeit hat die BA Rücklagen in Höhe von rund 17,2 Milliarden Euro. Eine Absenkung der Beiträge um 0,6 Prozentpun­kte, wie es die Union fordert, würde der Behörde 2019 ein Minus von 100 Millionen Euro bescheren.

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Foto: privat

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