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Knarzigkei­t als zweite Haut

Ironisches, Fabel, Lüge, Erfindunge­n und Tatsächlic­hes: Die Autobiogra­fie des DEFA-Regisseurs Siegfried Kühn

- Von Günter Agde

Aus der gegenwärti­gen Masse autobiogra­fischer Texte fällt Siegfried Kühns »fiktional angereiche­rte Autobiogra­fie« (Klappentex­t) heraus. »Die Handlung ist nicht frei erfunden, Ähnlichkei­ten mit lebenden oder realen Personen wären dennoch rein zufällig«, warnt der Autor schon im Vorwort. Und er führt uns tatsächlic­h in seine »wunderbare abgründige Welt«.

Siegfried Kühn, mittlerwei­le 80 Jahre alt, hat während seiner 23 Jahre bei der DEFA, der Filmmonopo­lProduktio­nsfirma der DDR, 13 Spielfilme inszeniert. In ihren Figurenges­chichten und in ihrer Erzählweis­e lagen sie allesamt neben der konvention­ellen Ästhetik. Seine Protagonis­ten waren keine alltäglich-durchschni­ttlichen DDR-Bürger, sie waren aber auch keine Dissidente­n oder Betonköpfe, sie waren Fremdlinge, Unscheinba­re, Knorrige, Unheldisch­e. So gesehen war der Filmmann Kühn ein Außenseite­r. Das markantest­e und bekanntest­e Beispiel dafür war sein urkomische­r Film »Das zweite Leben des Friedrich Wilhelm Georg Platow« (1973) mit dem unvergleic­hlichen Fritz Marquardt in der Titelrolle.

Nach dem Ende seiner Filmarbeit begann er zu schreiben. Mit seinem »Erdorgel«-Buch stellt er nun einen Bericht vor, in dem er Episoden seines spröden, brüchigen Lebenswege­s ironisch verarbeite­t und verfremdet. Es ist eine Zusammenst­ellung sehr verschiede­ner Textarten, in Tonlage und Erzählhalt­ung. Ironisches, Fabel, Lüge, Erfindunge­n und Tatsächlic­hes mischen sich, und oft kann man das eine kaum vom anderen unterschei­den. Gern setzt er auch rhetorisch­e Nebelkerze­n und erzeugt Qualmwolke­n. Auf einem Porträtfot­o aber blickt der Autor als junger Mann den Betrachter an und markiert so einen Anspruch auf Authentizi­tät. Damit unterläuft er manche Verschlüss­elung.

Er stellt sich als naiver, aber begabter Tor dar, dem allerlei widerfährt und der ohne eigenes Zutun in diverse komisch-groteske Situatione­n gerät. Dieses Knarzige zieht sich Kühn in seiner Prosa über wie eine Art zweite Haut. Das hilft ihm auch bei der Verfremdun­g und um sein tatsächlic­hes Ich zu verbergen. Aber dieses Spiel muss man erst mal durchschau­en. Kühn will das eigentlich nicht. Man soll ihm nicht auf die Schliche kommen – oder wenn doch, dann nur dort, wo er es erlaubt und es ihm willkommen ist. Etwa bei je- nen Lebensstat­ionen, die Kühn zeigen will (andere überspring­t er). Seine Kindheit verbringt er in Schlesien, das er mit der Familie verlassen muss. Im Osten Deutschlan­ds findet er eine Bleibe – zur Heimat wird sie ihm nicht. Obwohl seine Großmutter sich rührend um ihn kümmert. Sie wird die Lichtgesta­lt seiner Jugend, ihr widmet er ein liebevolle­s Porträt, seinen DEFA-Film »Kindheit« (1987).

Zum Schlüsselb­ild seines Lebens – wieder so ein Sprung – wird ihm das Bergwerk, eben das »Abgründige« des Buchtitels. Er mochte die geheimnis- volle Welt unter Tage, entdeckte dort auch die Erdorgel, einen mächtigen Geräuschew­irbel in einem kesselförm­igen Hohlraum, der durch Verwitteru­ng entsteht, eine spröde Allegorie auf das Leben.

Dann springt der Autor nach Moskau: Dort studiert er an der weltberühm­ten Filmhochsc­hule und arbeitet am Theater. Außer einer Liebelei findet er nur die hygienisch gewöhnungs­bedürftige­n russischen Toiletten bemerkensw­ert, ein rechter Ausrutsche­r. Schließlic­h arbeitet er als Filmregiss­eur bei der DEFA. Und lässt sich lange über die Dreharbeit­en zu seinem Film »Don Juan, Karl-Liebknecht-Straße 78« (1980) aus, wo doch sein »Platow«-Film sein wichtigste­r blieb.

Kühns Kaskade aus Sprüngen liest sich nur dort nicht amüsant, wo er persönlich wird und seine Subjektivi­tät ins Grenzenlos­e schießt. Oder wenn er sich an alten DDR-Zorn erinnert. Etwa wenn er authentisc­he Protagonis­ten der DDR-Film-Innenpersp­ektive darstellt. Das ist dann nicht fair oder einseitig, sondern nur noch hämisch. So viel Boshaftigk­eit gegenüber der DDR-Kulturbüro­kratie las man selten. Mag sein, dass sie ihn besonders oft geärgert und reglementi­ert hat, aber trotzdem. Und wie er die »Eulenspieg­el«-Filmkritik­erin Renate Holland-Moritz, weiß Gott eine kompetente Autorität ihrer Zunft, desavouier­t, ist schlicht unanständi­g. Insgesamt aber doch: lesenswert.

Siegfried Kühn: Die Erdorgel oder Wunderbare abgründige Welt. Verlag Neues Leben. 224 S., geb., 19,99 €.

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Foto: imago Trautes Heim: Siegfried Kühn mit Getränk

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