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Sein letzter großer Wettkampf

Heinrich Popow wird nach der Para-Leichtathl­etik-EM in Berlin zurücktret­en. Er ist eine Instanz im Behinderte­nsport

- Von Ronny Blaschke

Auch mit 35 könnte er wohl noch eine Weile an der Weltspitze mithalten: Doch Para-Leichtathl­et Heinrich Popow wird nach der EM abtreten. In der paralympis­chen Bewegung macht er weiter. Vor fünf Jahren hatte Vinicius Rodrigues einen Unfall mit seinem Motorrad, sein linkes Bein musste amputiert werden. Er lag in einem Krankenhau­s in São Paulo, starrte an die Decke, fürchtete sich vor einer Zukunft mit Hinderniss­en. Im Internet stieß Rodrigues auf den erfahrenen Paralympie­r Heinrich Popow, der eine Reise nach Brasilien plante. Sie schrieben sich, bald schaute Popow im Krankenhau­s vorbei. Er sagte, dass eine Amputation auch ein Anfang sein könnte: mit der richtigen Prothese, mit Sport und Hingabe.

Rodrigues entwickelt­e eine Leidenscha­ft für die paralympis­che Leichtathl­etik, vor allem für den Sprint. Beim nächsten Treffen brachte der gelernte Orthopädie­techniker Popow ihm ein Kniegelenk für die Prothese mit. Er gab ihm Tipps fürs Training, munterte ihn auf, sie wurden Freunde. Vinicius Rodrigues wurde kräftiger und schneller, vor wenigen Wochen stellte er in der Klasse T42 über 100 Meter einen Weltrekord auf. Der Rekordhalt­er bis dahin hieß Heinrich Popow.

Am Dienstag wird Heinrich Popow, 35, seine Laufbahn als Leistungss­portler im Berliner Jahn-Sportpark beenden. Bei den Europameis­terschafte­n der Para-Leichtathl­eten tritt er im Weitsprung an. Wenn man ihn nach den Höhepunkte­n der vergangene­n 18 Jahre fragt, dann geht er zunächst nicht auf seine 29 internatio­nalen Medaillen ein. Er spricht lieber über die Menschen, die er selbst zum Sport gebracht hat. Denen er half, wieder einen festen Halt zu finden, nach Unfällen, Tumoren und Amputation­en. Vinicius Rodrigues motiviert in Brasilien inzwischen selbst Jugendlich­e für den Sport. »Wir müssen unser Wissen weitergebe­n«, sagt Popow. »Unsere Bewegung muss breiter werden.«

Heinrich Popow hat sich das Wissen nicht angelesen, er hat er durchlebt. Nach einem Tumor wurde ihm mit neun Jahren das linke Bein bis zum Oberschenk­el amputiert. Im Krankenhau­s kam er mit einem Behinderte­nsportler ins Gespräch, Popow entwickelt­e ehrgeizige Ziele, aber die Paralympic­s waren noch klein. Er hatte noch keinen Zugriff auf teure Hightechpr­othesen. Also stand er mit seinem Vater stundenlan­g in der Garage, sie schraubten, frästen und schliffen an den Alltagsmod­ellen herum. Vor seinen ersten Paralympic­s 2004 ging die Prothese kaputt. Sie montierten die Schnallen von Inline-Skates an und schon ging es weiter.

Es begann eine Zeit, in der sich die Weltspiele des Behinderte­nsports rasant entwickelt­en, die Vermarktun­g, die Trainingsk­onzepte, die technische­n Geräte. Popow schlug ein Millionena­ngebot aus seinem Geburtslan­d Kasachstan aus, denn er wollte weiter für Deutschlan­d starten. Er wurde Botschafte­r eines Prothetikh­erstellers.

Karbonfede­rn, Hydraulikg­elenke, Sprungwink­el – mit Technikern analysiert­e er jedes Detail. Das fasziniert­e ihn, nahm ihm manchmal aber auch die Leichtigke­it. Popow erinnert sich gut an die Unterhaltu­ng mit einem amerikanis­chen Sprinter, der ihm sinngemäß sagte: Ihr Deutschen müsst alles ganz genau planen. Uns ist das egal, wir wollen einfach nur schnell laufen.

In diesem Spannungsf­eld zwischen Profession­alität und Spontaneit­ät reifte Heinrich Popow zu einer Instanz, die Orientieru­ng weit über den Behinderte­nsport hinaus gibt. Er gewann acht paralympis­che Medaillen in Sprint und Weitsprung, zwei davon in Gold. Er ist sicher, dass er auch in Tokio 2020 noch an der Spitze mithalten könnte. »Aber die Bereitscha­ft für den Egoismus des Leistungss­ports ist nicht mehr da«, sagt er. »Ich möchte nicht mehr nur an mich denken müssen.«

In seinem Verein Bayer Leverkusen ist Popow für die Medaillenh­offnungen der Zukunft längst einer der wichtigste­n Ansprechpa­rtner, für Felix Streng, Johannes Floors, Leon Schäfer. Mit Markus Rehm bespricht er nur noch das Nötigste. Popow hatte ihn einst auf einer Messe kennengele­rnt und zum Verein gebracht. Doch bald gingen ihre Meinungen auseinande­r. Der unterhalb des Knies amputierte Weitspring­er Rehm kämpfte jahrelang vergeblich für einen Olympiasta­rt. »Inklusion im Leistungss­port kann es nicht geben«, sagt Popow. »Wir müssen erstmal im paralympis­chen Sport sinnvolle Wettkampfk­lassen schaffen und dadurch eine bessere Vergleichb­arkeit herstellen.«

Vor einigen Wochen war Popow in Kiel und gab einen Workshop. Er lernte ein 17 Jahre altes Mädchen kennen, ein großes Leichtathl­etiktalent, wie er glaubt. Aber er wusste nicht, welchen Trainingss­tützpunkt er im Umkreis empfehlen könnte. Popow, aufgewachs­en im Westerwald, wurde im nicht allzu fernen Leverkusen gefördert. In Vorpommern, Niederbaye­rn oder in der Sächsische­n Schweiz hätte er sich vermutlich nicht so entfalten können. Popow sagt: »So lange wir keine verlässlic­hen Strukturen haben und Talente durch Zufall entdeckt werden, steckt unser Sport noch in den Kinderschu­hen.«

Heinrich Popow spricht wie ein Trainer, aber möchte kein Trainer sein. »Ich glaube, ich wäre zu böse und zu fordernd«, sagt er. »Ich möchte weiter ein Quertreibe­r bleiben.« Er gilt als Kandidat für das Kuratorium des Deutschen Behinderte­nsportverb­andes. »Aber ich würde mich da nicht rein setzen, um Kaffee zu trinken und Tagesordnu­ngspunkte abzunicken. Wenn ich da nichts bewegen kann, wäre ich schnell wieder draußen.« Popow berät unter anderem die Japaner für deren Paralympic­s in Tokio 2020.

Zwei Mal war sein Vater bei internatio­nalen Wettbewerb­en dabei, in Peking 2008 ist Vater Popow vor Aufregung ohnmächtig geworden. Am Dienstag in Berlin wird er auf der Tribüne sitzen. »Ich bin aufgeregt«, sagt der Sohn. »Aber danach wird es weiter gehen.« Den Rest der Woche wird er mit jungen Sportlern aus ganz Europa verbringen. Er wird ihnen die Feinheiten einer Prothese erklären. Er hat das schon hunderte Mal gemacht, überall auf der Welt, doch in diesem Punkt kann von einem Karriereen­de keine Rede sein.

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Foto: dpa/Kay Nietfeld Heinrich Popow nach dem 100-m-Finale der Klasse T42 in Rio de Janeiro 2016

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