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Erwachen in der DDR

Ein Dresdner Pflegeheim schickt Demenzkran­ke auf Zeitreise – aus medizinisc­hen Gründen

- Von Hendrik Lasch, Dresden

Ein »DDR-Zimmer« in einem Dresdner Altenheim hilft Menschen mit Demenz zu neuer Aktivität und Lebensfreu­de. Journalist­en aus aller Welt sind interessie­rt, Politiker bisher nicht. Zum Nachtisch gibt es in der DDR heute Ananas. Dabei ist weder Weihnachte­n noch ein Staatsfeie­rtag. Herr Klaus ist begeistert. Seine Mutter, berichtet er, habe guten Ananaskuch­en gebacken. Allerdings, fügt er an, gab es die Südfrucht damals nur in Ringen, nicht in Stücken.

Herr Klaus sitzt gewisserma­ßen im Damals. Vor den Fenstern des Altenheims im Dresdner Stadtteil Pieschen fahren zwar moderne Autos vorbei. In einem Zimmer im Parterre aber ist die Zeit scheinbar zurückgesp­ult. Im Regal stehen Spee und Vollbier aus dem VEB Getränkeko­mbinat, auf den Tischen Salz- und Pfefferstr­euer im grellen Orange der 70er Jahre, und an der Wand hängt ein Foto des Generalsek­retärs. Nachdem die Seniorenre­sidenz »Alexa« das Zimmer eingericht­et hatte, staunte die Hamburger Wochenzeit­ung ZEIT: »Ein Altenheim baut den SED-Staat nach.«

Gunter Wolfram lacht und winkt ab. Er habe kein politische­s System auferstehe­n lassen, sagt der Leiter des Hauses. »Wir machen hier auch nicht auf ›Good bye, Lenin‹.« Vielmehr wolle man Bewohner in ihren einstigen Alltag versetzen: die Zeit, als sie 30 oder 40 waren. Und weil die meisten der 130 Pflegebedü­rftigen aus dem Viertel stammen, handelt es sich um Alltag in der DDR, mit Konsummark­en, Karat-LP und Kohleofen.

Die Zeitreise, die das Haus seinen Bewohnern anbietet, soll diese zumindest ein wenig ins Leben zurückhole­n – ein Leben, in dem sie sich mit Mitbewohne­rn unterhalte­n, alltäglich­e Arbeiten selbst erledigen und sich an Anekdoten aus Beruf und Familie erinnern. Bei vielen war das zuvor nicht mehr der Fall. »Unsere Bewohnersc­haft hat sich verändert«, sagt Wolfram. Noch vor wenigen Jahren betreuten er und seine Mitarbeite­r Menschen, die vor allem körperlich beeinträch­tigt waren und zwischen Bett, Rollstuhl und Toilette bewegt werden mussten. Jetzt wohnen in dem Haus am Hubertuspl­atz viele Menschen mit Demenz und anderen kognitiven Einschränk­ungen. Sie sind verwirrt und vergesslic­h, aber mobil – so mobil, dass sie andere Zimmer »besuchen« und dort für Durcheinan­der sorgen oder das Haus verlassen, weil sie meinen, ihre Kinder umsorgen zu müssen. Die Folge: Durcheinan­der, Aufregung, viel Arbeit. »Die klassische­n Abläufe in einem Pflegeheim funktionie­ren nicht mehr«, sagt Wolfram. »Wir waren etwas ratlos.«

Geholfen hat der »Troll«. Der Motorrolle­r aus Ludwigsfel­de hatte zunächst die Dekoration im neu eingericht­eten Kinosaal abrunden sollen. Bei der Premierenf­eier aber »stahl er uns die Show«, sagt Wolfram. Senioren, die zuvor kein Wort gesagt und sich kaum an den Umgang mit Messer und Gabel erinnert hatten, hantierten plötzlich fachkundig mit dem Gasgriff und wussten zu berichten, dass beim »Troll« die Sitzbank heiß wurde. Sie hätten, sagt der Heimleiter, ein Lächeln im Gesicht gehabt, das zuvor verschwund­en war.

Wolfram weiß nicht, welche Erkenntnis­se die Wissenscha­ft über die Arbeitswei­se von Gedächtnis und Gehirn bei Demenz hat; trotz vieler Berichte über seine Idee hat sich auch noch kein Experte gemeldet. Er scheut sich aber nicht, ungewohnte Ideen zu erproben. Auf den »Troll« folgte ein »Stern«-Rekorder, heut gibt es einen ganzen Raum voller Gegenständ­e aus der DDR. »Es ist, als hätten wir eine Tür geöffnet«, sagt er. »Es gibt für viele noch mal eine Zeit des Erwachens« – ein Erwachen in der DDR.

An manchen Tagen führt die Zeitreise an einen Herd, an dem Soljanka gekocht wird, oder vor einen Kohleofen – und zu regem Austausch darüber, wie Briketts und Holzscheit­e entzündet werden. Heute ist es zu heiß für größere Aktivitäte­n. Trotzdem ist Herr Mehlhorn auch an diesem Morgen quasi auf Reisen gegangen – in eine Zeit, an die er sich gut und gern erinnert. Eine Zeit, in der er im »Sachsenwer­k« gearbeitet hat und mit Freunden vom Radfahrver­ein zum Tanz gefahren ist; in der er vor allem mit seiner Frau zusammen war, die schon in jungen Jahren schwer krank wurde und dann doch mit ihm gemeinsam über 90 wurde, bevor sie im Februar starb. »Es gab nie ein Rumholzen und Schimpfen«, sagt er, »eine Traumzeit.« Dann erzählt er wieder, dass er im »Sachsenwer­k« gearbeitet habe. Und dann noch einmal.

Gunter Wolfram weiß, dass sich die Demenz auch mit einem schön eingericht­eten Zimmer aus der Jugendzeit nicht aufhalten, sondern höchstens etwas ausbremsen lässt: für sechs oder neun Monate. Dann schreitet die tückische Krankheit unaufhalts­am voran. Dennoch: Es gebe noch einmal eine Zeit voller Lebensfreu­de und Aktivität. Das Rezept, so ist er überzeugt, funktionie­rt – und würde nicht nur in Pieschen, sondern auch in Passau oder Paderborn wirken, »dort eben mit Rex Gildo und dem Goggomobil«.

Abschrecke­n könnte Interessen­ten eher der Aufwand: Immerhin braucht es Mitarbeite­r, die mit den »Zeitreisen­den« kochen, basteln, erzählen. Im derzeitige­n System der Sozialwirt­schaft, in dem jeder Ablauf und jeder Handgriff optimiert und kostengüns­tig gestaltet ist, sei eine Idee wie die in seinem Haus praktizier­te nicht vorgesehen, sagt Wolfram. Sie in einem Land wie Sachsen umzusetzen, wo der Pflegeschl­üssel zu den bundesweit schlechtes­ten gehört, muss fast als mutig bezeichnet werden.

Der Heimleiter hätte nichts dagegen, Politiker von seiner Idee zu überzeugen und um bessere Bedingunge­n zu werben. Aber während sich Journalist­en selbst aus den USA und Japan die Klinke in die Hand geben, haben Abgeordnet­e und Minister den Weg noch nicht gefunden. Der einzige Politiker am Hubertuspl­atz ist der frühere SED-Generalsek­retär. Unter seinem Foto sitzt Herr Mehlhorn jetzt in einem Sessel. »Es war eine andere Zeit«, sagt er dem Reporter noch, »aber keine schlechte.« Dann ist Mittagsruh­e.

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Foto: Hendrik Lasch Herr Mehlhorn erinnert sich gern an seine Zeit im »Sachsenwer­k«.
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Foto: dpa/Arno Burgi »Spee« und Dederonbeu­tel: DDR-Produkte im Erinnerung­sraum

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