Erwachen in der DDR
Ein Dresdner Pflegeheim schickt Demenzkranke auf Zeitreise – aus medizinischen Gründen
Ein »DDR-Zimmer« in einem Dresdner Altenheim hilft Menschen mit Demenz zu neuer Aktivität und Lebensfreude. Journalisten aus aller Welt sind interessiert, Politiker bisher nicht. Zum Nachtisch gibt es in der DDR heute Ananas. Dabei ist weder Weihnachten noch ein Staatsfeiertag. Herr Klaus ist begeistert. Seine Mutter, berichtet er, habe guten Ananaskuchen gebacken. Allerdings, fügt er an, gab es die Südfrucht damals nur in Ringen, nicht in Stücken.
Herr Klaus sitzt gewissermaßen im Damals. Vor den Fenstern des Altenheims im Dresdner Stadtteil Pieschen fahren zwar moderne Autos vorbei. In einem Zimmer im Parterre aber ist die Zeit scheinbar zurückgespult. Im Regal stehen Spee und Vollbier aus dem VEB Getränkekombinat, auf den Tischen Salz- und Pfefferstreuer im grellen Orange der 70er Jahre, und an der Wand hängt ein Foto des Generalsekretärs. Nachdem die Seniorenresidenz »Alexa« das Zimmer eingerichtet hatte, staunte die Hamburger Wochenzeitung ZEIT: »Ein Altenheim baut den SED-Staat nach.«
Gunter Wolfram lacht und winkt ab. Er habe kein politisches System auferstehen lassen, sagt der Leiter des Hauses. »Wir machen hier auch nicht auf ›Good bye, Lenin‹.« Vielmehr wolle man Bewohner in ihren einstigen Alltag versetzen: die Zeit, als sie 30 oder 40 waren. Und weil die meisten der 130 Pflegebedürftigen aus dem Viertel stammen, handelt es sich um Alltag in der DDR, mit Konsummarken, Karat-LP und Kohleofen.
Die Zeitreise, die das Haus seinen Bewohnern anbietet, soll diese zumindest ein wenig ins Leben zurückholen – ein Leben, in dem sie sich mit Mitbewohnern unterhalten, alltägliche Arbeiten selbst erledigen und sich an Anekdoten aus Beruf und Familie erinnern. Bei vielen war das zuvor nicht mehr der Fall. »Unsere Bewohnerschaft hat sich verändert«, sagt Wolfram. Noch vor wenigen Jahren betreuten er und seine Mitarbeiter Menschen, die vor allem körperlich beeinträchtigt waren und zwischen Bett, Rollstuhl und Toilette bewegt werden mussten. Jetzt wohnen in dem Haus am Hubertusplatz viele Menschen mit Demenz und anderen kognitiven Einschränkungen. Sie sind verwirrt und vergesslich, aber mobil – so mobil, dass sie andere Zimmer »besuchen« und dort für Durcheinander sorgen oder das Haus verlassen, weil sie meinen, ihre Kinder umsorgen zu müssen. Die Folge: Durcheinander, Aufregung, viel Arbeit. »Die klassischen Abläufe in einem Pflegeheim funktionieren nicht mehr«, sagt Wolfram. »Wir waren etwas ratlos.«
Geholfen hat der »Troll«. Der Motorroller aus Ludwigsfelde hatte zunächst die Dekoration im neu eingerichteten Kinosaal abrunden sollen. Bei der Premierenfeier aber »stahl er uns die Show«, sagt Wolfram. Senioren, die zuvor kein Wort gesagt und sich kaum an den Umgang mit Messer und Gabel erinnert hatten, hantierten plötzlich fachkundig mit dem Gasgriff und wussten zu berichten, dass beim »Troll« die Sitzbank heiß wurde. Sie hätten, sagt der Heimleiter, ein Lächeln im Gesicht gehabt, das zuvor verschwunden war.
Wolfram weiß nicht, welche Erkenntnisse die Wissenschaft über die Arbeitsweise von Gedächtnis und Gehirn bei Demenz hat; trotz vieler Berichte über seine Idee hat sich auch noch kein Experte gemeldet. Er scheut sich aber nicht, ungewohnte Ideen zu erproben. Auf den »Troll« folgte ein »Stern«-Rekorder, heut gibt es einen ganzen Raum voller Gegenstände aus der DDR. »Es ist, als hätten wir eine Tür geöffnet«, sagt er. »Es gibt für viele noch mal eine Zeit des Erwachens« – ein Erwachen in der DDR.
An manchen Tagen führt die Zeitreise an einen Herd, an dem Soljanka gekocht wird, oder vor einen Kohleofen – und zu regem Austausch darüber, wie Briketts und Holzscheite entzündet werden. Heute ist es zu heiß für größere Aktivitäten. Trotzdem ist Herr Mehlhorn auch an diesem Morgen quasi auf Reisen gegangen – in eine Zeit, an die er sich gut und gern erinnert. Eine Zeit, in der er im »Sachsenwerk« gearbeitet hat und mit Freunden vom Radfahrverein zum Tanz gefahren ist; in der er vor allem mit seiner Frau zusammen war, die schon in jungen Jahren schwer krank wurde und dann doch mit ihm gemeinsam über 90 wurde, bevor sie im Februar starb. »Es gab nie ein Rumholzen und Schimpfen«, sagt er, »eine Traumzeit.« Dann erzählt er wieder, dass er im »Sachsenwerk« gearbeitet habe. Und dann noch einmal.
Gunter Wolfram weiß, dass sich die Demenz auch mit einem schön eingerichteten Zimmer aus der Jugendzeit nicht aufhalten, sondern höchstens etwas ausbremsen lässt: für sechs oder neun Monate. Dann schreitet die tückische Krankheit unaufhaltsam voran. Dennoch: Es gebe noch einmal eine Zeit voller Lebensfreude und Aktivität. Das Rezept, so ist er überzeugt, funktioniert – und würde nicht nur in Pieschen, sondern auch in Passau oder Paderborn wirken, »dort eben mit Rex Gildo und dem Goggomobil«.
Abschrecken könnte Interessenten eher der Aufwand: Immerhin braucht es Mitarbeiter, die mit den »Zeitreisenden« kochen, basteln, erzählen. Im derzeitigen System der Sozialwirtschaft, in dem jeder Ablauf und jeder Handgriff optimiert und kostengünstig gestaltet ist, sei eine Idee wie die in seinem Haus praktizierte nicht vorgesehen, sagt Wolfram. Sie in einem Land wie Sachsen umzusetzen, wo der Pflegeschlüssel zu den bundesweit schlechtesten gehört, muss fast als mutig bezeichnet werden.
Der Heimleiter hätte nichts dagegen, Politiker von seiner Idee zu überzeugen und um bessere Bedingungen zu werben. Aber während sich Journalisten selbst aus den USA und Japan die Klinke in die Hand geben, haben Abgeordnete und Minister den Weg noch nicht gefunden. Der einzige Politiker am Hubertusplatz ist der frühere SED-Generalsekretär. Unter seinem Foto sitzt Herr Mehlhorn jetzt in einem Sessel. »Es war eine andere Zeit«, sagt er dem Reporter noch, »aber keine schlechte.« Dann ist Mittagsruhe.