Mit dem anpassungsfähigen Homo sapiens entwickelte sich eine überlebensfähige Menschenart.
Warum von mehreren archaischen Menschenarten nur der Homo sapiens überlebt hat.
Die meisten Paläoanthropologen gehen heute davon aus, dass der Ursprung der Menschheit in Afrika lag. Von hier aus gelangten verschiedene Arten der Gattung Homo, zu der laut biologischer Systematik der anatomisch moderne Mensch sowie seine nächsten ausgestorbenen Verwandten gehören, auch auf andere Kontinente und wurden dort sesshaft.
Die erste Auswanderungswelle vollzog sich vor rund 1,9 Millionen Jahren. Getragen wurde sie von einer Menschenart namens Homo erectus, die erstmals in gemäßigte Klimazonen vorstieß und große Teile Asiens und Europas besiedelte. Nach Auffassung des britischstämmigen kenianischen Paläoanthropologen Richard Leakey war Homo erectus »die erste hominine Art, die das Feuer benutzte; die erste, die das Jagen als ein wesentliches Element zur Sicherung ihrer Nahrungsversorgung einsetzte; die erste, die wie ein moderner Mensch laufen konnte«. In der Nähe der georgischen Stadt Dmanisi haben Forscher die bisher ältesten Homo-erectus-Fossilien außerhalb Afrikas ausgegraben. Ihr Alter wurde auf ca. 1,8 Millionen Jahre datiert.
In Vorderasien und Europa ging aus dem Homo erectus der Neandertaler (Homo neanderthalensis) hervor. In Afrika entwickelte sich aus verbliebenen Populationen des Homo erectus vor fast 300 000 Jahren der anatomisch moderne Mensch (Homo sapiens), der in mehreren Schüben seinen Ursprungskontinent verließ und sich vermutlich über zwei Routen nach Norden bewegte. Eine Route führte über das Niltal bis in den Nahen Osten und schließlich auf den europäischen Kontinent, die andere über die heutige Bab al-Mandab- Straße am Roten Meer auf die arabische Halbinsel. Von dort ging es weiter in Richtung Ostasien. Als einzige Menschenart schaffte es der Homo sapiens, Australien zu besiedeln, vor ca. 60 000 Jahren. Den amerikanischen Doppelkontinent betrat er erstmals vor rund 15 000 Jahren. Die früher verbreitete Ansicht, wonach sich der anatomisch moderne Mensch auf mehreren Kontinenten getrennt voneinander aus dem Homo erectus entwickelt habe, darf heute als widerlegt gelten.
Anders als der Homo erectus, der bei seiner Auswanderung in riesige, menschenleere geografische Räume vordrang, traf Homo sapiens vielerorts auf bereits ansässige Menschenarten. In Europa etwa auf den Neandertaler, in Süd- und Ostasien auf andere Nachkommen des Homo erectus. Was ist mit diesen Menschenarten geschehen? Wurden sie verdrängt, ausgerottet? Und wie weit sind ihre Gene in das Erbgut des Homo sapiens eingeflossen? Darüber gibt es unter Wissenschaftlern nach wie vor kontroverse Auffassungen. Was den Genfluss betrifft, deutet alles darauf hin, dass zwischen modernen Menschen und späten Vertretern des Homo erectus keine Vermischung stattfand. Zwischen Homo sapiens und Homo neanderthalensis kam es dagegen zu sexuellen Paarungen und damit zu einem Gentransfer. Dieser war prozentual gesehen zwar relativ gering, trug aber dazu bei, das menschliche Immunsystem zu stärken. Eines indes gilt in der Paläoanthropologie seit langem als gesichert: Bis auf den Homo sapiens teilten alle Menschenarten, die je auf der Erde gelebt hatten, das gleiche Schicksal. Sie starben aus.
Gewöhnlich werden die höhere Intelligenz, der geschicktere Werk- zeuggebrauch oder die entwickelte Sprache als Gründe für die Überlegenheit des Homo sapiens geltend gemacht. All dies spielte im harten Überlebenskampf unserer Vorfahren sicherlich eine Rolle, ob es jedoch die entscheidende war, bleibt fraglich. Patrick Roberts vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena und Brian Stewart von der Universität Michigan sind überzeugt, dass einer der wichtigsten Vorzüge des frühen Homo sapiens in der Fähigkeit bestand, Lebensräume zu besiedeln, die anderen Menschenarten verschlossen blieben. Die Forscher werteten hierzu eine Vielzahl von archäologischen und paläoökologischen Daten über die Verbreitung ausgestorbener Menschenarten aus und verglichen sie mit denen des Homo sapiens. Dabei stellten sie fest, dass der Homo erectus, der Neandertaler und andere archaische Menschenarten fast nur in Wald- und Wiesenlandschaften lebten. Dagegen besiedelte Homo sapiens auch extreme Lebensräume wie Wüsten, tropische Regenwälder, das Hochgebirge und die Paläoarktis. Und es gelang ihm, sich an diese Regionen dauerhaft anzupassen.
Im Fachblatt »Nature Human Behaviour« (DOI: 10.1038/s41562-0180394-4) beschreiben die Forscher den modernen Menschen deshalb als »spezialisierten Generalisten«. Normalerweise gibt es bei biologischen Arten eine klare ökologische Zweiteilung zwischen »Generalisten«, die zahlreiche Ressourcen nutzen und vielfältige Lebensräume bewohnen können, und »Spezialisten«, die sich spezifischer ernähren und eine geringere Toleranz gegenüber wechselnden Umweltbedingungen haben. »Homo sapiens als eigentlich generalistische Art umfasst jedoch auch spe- zialisierte Populationen, wie z. B. die Bewohner von Bergregenwäldern oder paläoarktische Mammutjäger«, erklärt Roberts. Das heißt, obwohl der moderne Mensch ökologisch wenig festgelegt ist, kann er sich bei Bedarf hochgradig spezialisieren, etwa auf ein Dasein in extremer Höhe. Möglich wurde dies durch genetische Veränderungen, die Menschen befähigten, mit wenig Sauerstoff auszukommen. In der klirrenden Kälte arktischer Regionen überlebten die Menschen hingegen dank ihres Vermögens, sich relativ einseitig zu ernähren.
Die hohe Anpassungsfähigkeit des Homo sapiens könnte durch eine intensive Kooperation auch zwischen nicht verwandten Individuen unterstützt worden sein, meint Ko-Autor Brian Stewart. »Das Teilen von Nahrungsmitteln, Fernhandel und rituelle Beziehungen haben es den Populationen ermöglicht, sich ›reflexiv‹ an lokale Klima- und Umweltschwankungen anzupassen und andere Menschenarten zu ersetzen.« Aber auch die Weitergabe von kulturellem Wissen in materieller oder ideeller Form sei eine wichtige Voraussetzung gewesen für das erfolgreiche Überleben unserer Spezies im Pleistozän.
Natürlich handelt es sich hier lediglich um ein Modell, das durch fossile Funde von anderen Menschenarten in unwirtlichen Regionen der Erde jederzeit widerlegt werden könnte. Zum Beispiel durch die Ausgrabung eines Neandertaler-Schädels im tibetischen Hochland. Doch ohne Berücksichtigung der ökologischen Bedingungen der Menschwerdung dürfte es nach Meinung der Forscher kaum möglich sein zu erklären, warum von allen einst auf der Erde lebenden Menschenarten heute nur noch der Homo sapiens existiert.