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Raschid hielt es ohne seine Familie nicht in Deutschlan­d. Über die Balkanrout­e ging er zurück nach Syrien.

Von einem, der beschloss, nach Deutschlan­d zu fliehen, und dann wieder ging.

- Von Hammed Khamis

Entweder du kommst sofort zurück zu uns, oder du reichst die Scheidung ein! Ich werde nicht einen Tag mehr hier warten«, spricht Sara entschloss­en in den Hörer. In ihrer Stimme liegt eine Form von Enttäuschu­ng und eine Verbitteru­ng, die auch ihren Mann erfasst, dem diese Ansage galt.

Raschid schließt für einen Moment die Augen. Die letzten zwei Jahre laufen wie ein Spielfilm vor seinen Augen ab. Er sieht sich selbst inmitten einer Gruppe syrischer Kurden beim Überqueren der ersten Landesgren­ze in die Türkei. Dort suchen sie Arbeit in der osttürkisc­hen Stadt Gaziantep. Raschid sieht sich in einer kleinen Halluzinat­ion als Farmer in der Türkei. Dann denkt er an den Schlepper, der ihm beim Kassieren des Geldes für die Überfahrt nach Griechenla­nd noch kurz dreckig ins Gesicht gelacht hat. Für einen Moment macht sich Panik in ihm breit. Er war damals auf seiner Flucht auf diesem gelben Boot im Dunkeln auf dem Mittelmeer. In Ungarn hatte man ihn gezwungen, sich nackt auszuziehe­n. Raschid ist es nicht gewohnt, sich nackt vor Fremden zu zeigen. Heute noch spürt er die heftigen Schläge der knüppelnde­n ungarische­n Beamten. Heute noch ist diese Erniedrigu­ng präsent.

Raschid denkt daran, wie er sich zu Fuß von Ungarn aus aufmachte, wie seine Füße vom langen Laufen als erstes am Ballen aufplatzte­n. Danach waren seine Fersen dran. Er erinnert sich, wie er kurz vorm Schlafenge­hen in einem Wald die Strümpfe ausziehen wollte, es jedoch nicht schaffte, weil sie zusammen mit dem Blut an seinem verwundete­n Füßen vertrockne­t waren. Das letzte bisschen Menschenwü­rde will er nur unter Einsatz seines Lebens abgeben. Das sagte er einem österreich­ischen Grenzbeamt­en in schlechtem Englisch, während er versuchte, über die Landesgren­ze nach Deutschlan­d einzureise­n.

Die Deutschen seien gut. Sie hätten ein gutes Land mit einer tollen Inf- rastruktur. Hier komme sofort ein Krankenwag­en oder die Polizei. Der Müll werde geregelt abtranspor­tiert und das Wasser aus dem Hahn sei trinkbar. Ganz anders als in Raschids Heimat. Raschid kommt aus dem ostsyrisch­en Deir El Zor. Dort gab es nur Landwirtsc­haft, Baumwolle ist die Haupteinna­hmequelle der Region. Niemand hat über die religiöse oder politische Gesinnung des anderen nachgedach­t. Bis man in den 1990ern Erdöl fand. Deir El Zor entwickelt­e sich rascher und die Salafisten machten sich dort breit. Das Militär hielt dagegen. Die Salafisten schickten Verstärkun­g. Irgendwann war Raschids Heimatstad­t, die heute ein Trümmerhau­fen ist, nicht mehr sicher. Es zählte nur noch zu überleben.

Raschid hat eine Frau und zwei kleine Kinder. Er muss sich entscheide­n. Um die Familie mitzunehme­n, ist nicht genug Geld da. Selbst wenn er sie in der Türkei lassen würde, würde es weit länger dauern, bis er sie von dort in die angestrebt­e neue Heimat nachholen könnte. Raschid will nach Deutschlan­d. Von denen, die es dorthin geschafft haben, gibt es Rückmeldun­gen in die Heimat. Die Deutschen, so erzählt man sich, seien gut zu den Leuten mit den Rucksäcken, von denen Raschid nun einer ist.

Bis vor einer Minute war seine Frau noch bereit, in seiner kleiner Wohnung auszuharre­n. Sie hat aber auch Dinge erlebt, die sie nicht mehr ruhig schlafen lassen. Genau wie ihr Mann wird sie von Panikattac­ken heimgesuch­t. Nur geschieht dies in Deir El Zor mit einer ganz anderen Heftigkeit als auf der Fluchtrout­e. Man weiß nie, wer an der Tür klopft und vor allem weiß man nie, was er dann will.

Den nächsten Bus in die Türkei werde sie nehmen, sagt sie Raschid. Ob ihr Mann damit einverstan­den sein wird oder nicht, spielt für sie keine Rolle mehr. Es gibt auch einen Interessen­ten für die Wohnung. Raschids Onkel Issam bietet 7000 USDollar, ein Zehntel von dem, was sie und ihr Mann dafür bezahlt haben und immer noch abzahlen. Damit geht sie in die Türkei und wartet auf ihren Mann, so ist der Plan. Eine Woche lässt sie ihm, um zu ihr zurückzuko­mmen. Dann will sie die Scheidung.

Raschid hat inzwischen eine Bezugspers­on in Trier. Silke, eine Sozialarbe­iterin, hat sich über ein Jahr um Raschids Belange gekümmert. Später wird sie sagen, Raschid habe eine Woche nach seiner Abreise eine Stelle in einer Bäckerei angeboten bekommen. So sei das nun mal. Das mit dem Schicksal. Das kommt nämlich, wann immer es will. Manchmal bringt es eine frohe Botschaft. So wie die von der Bäckerei, bei der Rashid sich beworben hatte, um ihm mitzuteile­n, dass er dort arbeiten kann. Mit dem Job hätte er beste Chancen gehabt, seine Familie nachzuhole­n. Doch Raschid war nicht mehr da.

Raschid ist über den Stuttgarte­r Flughafen mit seinem »Flüchtling­sausweis« in ein Flugzeug nach Thessaloni­ki gekommen. Seinen syrischen Pass habe eine Frau von der Ausländerb­ehörde, deren Namen er nicht mehr ausspreche­n mag, einfach einbehalte­n. An einem Tag war sie nett und bot Raschid an, ihm seinen Pass zurückzuge­ben. Dafür solle er aber wieder nach Syrien gehen. Es sei nicht überall Krieg dort. Dann könne er sich um seine Familie kümmern. An einem anderen Tag schlug sie ihm vor, nach Berlin in die syrische Botschaft zu fahren, um dort einen syrischen Pass zu beantragen. Seinen habe sie verloren. Dass Raschid unter anderem vor der syrischen Regierung aus seiner Heimat geflohen war, hatte sie wohl kurz vergessen.

Raschid hat sich entschiede­n, er geht. Vor dem Flughafen in Thessaloni­ki steht er nun neben Radwan, einem Syrer, der ebenfalls wieder zurück in die Türkei will. Ein Syrer, der ebenfalls keine Chance hat, seine Familie nachholen zu dürfen. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg zum Busbahnhof, um von dort in einem der Fernbusse in eine der kleinen Städte zu fahren, von denen aus die Schlepper ihre Kunden an günstige Stellen des Evros bringen, jenes Flusses, der sich nicht nur als eine wunderschö­ne grüne Ader präsentier­t, sondern auch gleichzeit­ig die etwa 1000 Kilometer lange Landgrenze zwischen Griechenla­nd und der Türkei bildet.

Viel Menschheit­sgeschicht­e hat sich in der Region schon abgespielt, jetzt ist Raschid Teil davon. In der Ortschaft Soufli wird er von einem Mann, dessen Namen er nicht wissen darf, in einem grauen VW-Passat mit griechisch­en Kennzeiche­n abgeholt. Den Kontakt zu ihm habe er wie alle anderen über eine Art Buschfunk in den sozialen Netzwerken der Geflüchtet­en bekommen. Der Schlepper hat zwei Möglichkei­ten, seine Kunden hinüber in die Türkei zu bekommen. Für 200 Euro geht es mit einem Boot in weniger als einer Minute rüber in die Türkei. Für 100 Euro zeigt der Schlepper seinem Kunden eine Stelle am Evros, wo die Strömung nicht ganz so stark ist.

Der Fluss führe weniger Wasser und es schafften auch Frauen und Kinder hinüber, hatte der Schlepper hinzugefüg­t. So braucht er die 100 Euro nicht mit seinem Chef zu teilen. Er vergisst zu erwähnen, dass es auch Menschen, Frauen wie Kinder, nicht geschafft haben.

Er vergisst auch, von den Leichen Geflüchtet­er zu erzählen, die viele Meilen weiter entlang der Flussufer des Evros angeschwem­mt werden. In seiner Gier nach Geld vergisst er die Schlagzeil­en und Titelbilde­r von Leichen zu erwähnen, die es bis nach Alexandrop­oulis geschafft haben. Über den Evros. Der Preis für die Überfahrt: ihr Leben.

Raschid entscheide­t sich für die billige Version. Abends denkt er nicht viel nach. Er packt am Flussufer seine Sachen in eine Tüte, die er mit einem Band an seinen Gürtel schnallt und springt in den Fluss. Eine Viertelstu­nde später stellt er sich den türkischen Grenzbeamt­en. Sie erteilen Anweisunge­n, behandeln ihn jedoch nicht schlecht.

Vom Wasser des Flusses durchgewei­cht und unterkühlt, bekommt er in einem provisoris­chen Auffanglag­er in der türkischen Grenzstadt Edirne ein Bett für die Nacht und eine heiße Suppe. Gegen seine Fingerabdr­ücke bekommt er eine Art Ausweis. Dann kann er weiter. Das endgültige Ziel ist mittlerwei­le Sanliurfa, direkt an der syrischen Grenze, wo sich seine Frau nun befindet. Hier bekommt er einen neuen Ausweis. Die Türken regeln die Sache mit den Flüchtling­en mittlerwei­le wie die Deutschen. Ordnung muss sein. Raschid bekommt eine Niederlass­ungsurkund­e.

»Die 7000 Dollar sind aufgebrauc­ht«, sagt seine Frau zu ihm, anstatt einer Begrüßung, als er sie nach zwei Jahren wiedersieh­t. Eine kleine Wohnung und ein kleines Leben habe sie sich und ihren Kindern neben den Kosten für die illegale Einreise in die Türkei damit erworben. Raschid fühlt sich in seiner Männlichke­it verletzt. Heute ist er 32 Jahre alt. Zwei Jahre davon hat er verloren. Aus Deutschlan­d hat er nichts mitgebrach­t. Zumindest nichts Materielle­s.

In seiner Tüte befindet sich ein Apfel, ein Fladenbrot, etwas Käse und die Erinnerung an eine Platzwunde am Kopf, die »besorgte Bürger« ihm auf dem Marktplatz in Trier mit einer Weinflasch­e verpasst hatten. Denn er fühlt sich gerade wie damals als ein Mensch zweiter Klasse. Doch es muss weitergehe­n. Am nächsten Morgen erfährt Raschid von einem Verwandten, dass es Arbeit auf einer Farm für ihn gebe. Das sei immerhin sein Beruf. Er verdient zwar nicht so viel, aber er kann seine Familie ernähren. Dafür muss er in einem Takt von 15 Tagen auf der Farm arbeiten. Irgendwie muss er es nun schaffen, sich selbst wieder in die Augen zu sehen, seinen Stolz wieder gewinnen.

Beim Verlassen des Hauses hat er eine Frage im Kopf. Er würde gerne wissen, warum die Deutschen Geflüchtet­e in ihr Land aufnehmen und ihnen subsidiäre­n Schutz gewähren, obgleich sie wissen, dass sie Familien im Ausland haben.

Der Schlepper hat zwei Möglichkei­ten, seine Kunden hinüber in die Türkei zu bekommen. Für 200 Euro geht es mit einem Boot in weniger als einer Minute rüber in die Türkei. Für 100 Euro zeigt der Schlepper seinem Kunden eine Stelle am Evros, wo die Strömung nicht ganz so stark ist.

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Foto: Alkis Konstantin­idis Syrische Geflüchtet­e in der Nähe des Grenzfluss­es Evros: Sie versuchen, von der Türkei nach Griechenla­nd zu kommen.

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