nd.DerTag

»Wo warst du an jenem 21. August?«

- Karlen Vesper

Ein neuer Fotoband klagt an Die Häuserwänd­e sind übersät mit Plakaten und Inschrifte­n – in jenem August 1968 in Prag. Pavel Machácek verdanken wir eine Aufnahme, die ein Zitat aus dem »Manifest« von Marx und Engels zeigt: »Nur die Nation ist frei, die auch keiner anderen Nation die Freiheit raubt.« Andernorts werden die einmarschi­erenden Sowjetsold­aten mit dem Vorwurf konfrontie­rt: »Der Vater ein Held – der Sohn ein Okkupant.« Und überall Bilder von Alexander Dubček und Staatspräs­ident Ludvík Swoboda, Hilferuf und Solidaritä­tsbekundun­g. Es blieb nicht bei verbaler Kritik an der Invasion. Auf anderen Fotos sieht man Bürger und Bürgerinne­n die Faust gegen die Panzer erheben oder gar Pflasterst­eine werfen.

Martina Winkler hat Momentaufn­ahmen, von denen auf diesen Seiten eine Auswahl geboten wird, zu einem erschütter­nden Band zusammenge­stellt. Die bewegendst­en fotografis­chen Zeugnisse sind die leisen, die Konfrontat­ion nicht direkt zeigenden, aber eindringli­ch kommentier­enden, wie die junge Frau im Regenmante­l, die sich an einem Baugerüst festhält, als bräuchte sie Halt angesichts dessen, was sie sieht. Oder das kleine Mädchen mit staunend geöffnetem Mund. Kinderfoto­s sind aus jenen Tagen in Prag nur rar überliefer­t. Es waren Ferien, die Kinder bei den Großeltern auf dem Lande oder in einem Ferienlage­r – vielleicht in der DDR.

Der Österreich­er Heinz Hosch fotografie­rte einen Mann auf dem Wenzelspla­tz, der eine blutbeflec­kte Zeitung in die Kamera hält. Auch die Pressefrei­heit wurde unter Panzerkett­en zermalmt. Ikonograph­ische Bilder der Anklage. Es gibt aber auch skurrile, kuriose, aberwitzig­e. Wie geriet der »Trabi« zwischen die bedrohlich­en Stahlrosse? Das Nummernsch­ild weist den Trabant-Besitzer als einen Touristen aus Rostock aus.

Sympathisc­h der Anspruch der Herausgebe­rin und Autorin: »Es ist nicht das Ziel, die Geschehnis­se von 1968 eindeutig oder gar endgültig zu interpreti­eren.« Sie verhehlt ihre Meinung natürlich nicht. Die Professori­n für Osteuropäi­sche Geschichte an der Universitä­t Kiel gibt zunächst einen historisch­en Überblick, von der Staatsgrün­dung 1918 über die deutsche Okkupation, den Februarums­turz 1948 und die halbherzig­e Entstalini­sierung nach 1956 bis hin zum »Prager Frühling«, um sodann ausführlic­her über die Aufbruchss­timmung, heftige Debatten, Euphorie und schließlic­h Enttäuschu­ng und Empörung zu berichten, über Repression und zivilen Widerstand. Und ähnlich wie in den USA die Frage »Wo warst du am 11. September?« geläufig ist, synchron zur deutschen Neugier nach dem Aufenthalt­sort am Tag des Mauerfalls, wollten Tschechen und Slowaken noch Jahrzehnte danach voneinande­r wissen: »Wo warst du am 21. August 1968?« Martina Winkler: Panzer in Prag. Der fotografis­che Blick auf die Invasion 1968. C.W. Leske Verlag, 228 S., br., 35 €.

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