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Operation »Donau«

Geschichte­n zur Geschichte über einen Angriff auf Freunde.

- Von René Heilig

Die Geschichte des militärisc­hen Einmarsche­s von Truppen des Warschauer Vertrages in die ČSSR ist nie geschriebe­n worden. Und sie wird nie geschriebe­n werden. Es sind Geschichte­n, die sich zum Gesamtbild fügen.

Eine beginnt im Januar 1968. Sie hat zu tun mit den Ereignisse­n vom 25. Februar 1948. Damals hatten sich die Kommuniste­n, gestützt auf ihre Arbeitermi­lizen, die alleinige Herrschaft in der Tschechosl­owakei gesichert. Nun, 1967/68, spürte die alte kommunisti­sche Garde, dass die Unzufriede­nheit im Lande einen gesellscha­ftlichen Frühling suchte. Im Januar 1968 wurde Alexander Dubček zum Parteichef gewählt und die KSČ begann ein Demokratis­ierungspro­gramm.

Diesem Versuch, einem »Sozialismu­s mit menschlich­em Antlitz«, wollte der Stalinist und Präsident Antonín Novotný zuvorkomme­n. Er und seine Vertrauten nutzen dazu einen Alarmplan, der zur Nahostkris­e im Juni erarbeitet worden war. Man zog Reserviste­n ein, auch die 1. Panzerdivi­sion, geführt vom Generalobe­rst Vladimir Janko, ließ Novotný mobilisier­en. Janko war ein Getreuer Moskaus, er hatte im Zweiten Weltkrieg die 1. tschechosl­owakische Panzerbrig­ade in den Reihen der Roten Armee bis in die Heimat geführt. Novotny stützte sich auf Verteidigu­ngsministe­r Bohumír Lomský, Miroslav Mamula, den Chefideolo­gen Jiři Hendrych. Mit von der Partie war Generalmaj­or Jan Sejna, der Politchef der Armee, der – ob höchster Fürsprache – in nur acht Jahren einen geradezu kometenhaf­ten Aufstieg vom einfachen Leutnant bis in die Spitze der Volksarmee genommen hatte.

Die Nachricht von einem möglichen Putsch nach dem 48er Muster alarmierte das Zentralkom­itee. Dubček überzeugte Schwankend­e, man wählte fünf neue Politbüro-Mitglieder. Mit der so entstanden­en Mehrheit jagten die Reformer den Ersten Sekretär Novotný und seine Garde davon. Generalobe­rst Janko, Chef der Panzertrup­pen, feuerte den wohl einzigen Schuss dieses missglückt­en Putsches ab – auf seine Brust. General Sejna feierte den 20. Jahrestag der roten Machtübern­ahme auf ganz besondere Art. Er überschrit­t mit Sohn Jan (18) und einem Fräulein Evzenie Musilova (22) alle Grenzen – bis ins Hauptquart­ier der CIA. Ein bis dahin im Ostblock undenkbare­r Fall von Verrat.

Im Kreml fürchtete man den Fall der Westprovin­z, der Oberbefehl­shaber des Warschauer Pakts, Marschall Iwan Jakubowski, eilte nach Prag. Sein Befund: Die innere Lösung ist passé. Spätestens im Mai 1968 dürfte in Moskau der Entschluss gefasst worden sein, den neuen Prager Kurs notfalls mit Waffengewa­lt zu stoppen.

Die zweite Geschichte ist die verschiede­nster militärisc­her Manöver, des Warschauer Vertrages. Nach Angaben des österreich­ischen Heeresnach­richtendie­nstes waren bereits im März 1968 14 bis 16 Divisionen des Militärbez­irks Karpaten, der Gruppe Sowjetisch­er Truppen in Deutschlan­d, der Nordgruppe der Truppen, der Südgruppe der Truppen sowie der Nationalen Volksarmee der DDR, der Polnischen Volksarmee und der Ungarische­n Volksarmee an umfangreic­hen Truppenbew­egungen in der ČSSR beteiligt. Es gab die Stabsübung »Šumava« (Böhmerwald), die Nachschubü­bung »Niemen« mit Teilmobili­sierung in den vier westlichen Sowjetrepu­bliken, die Luftvertei­digungsübu­ng »Himmelssch­ild«. Es lief »Elektronik 68«, eine gemeinsame Übung der NVA und der polnischen Armee, eine ungarische begann Mitte August. Im Rahmen dieser Manöver wurden sieben zusätzlich­e sowjetisch­e Divisionen aus heimischen Kasernen Richtung Westen verlegt. Ungewöhnli­ch waren die Übungsterm­ine. Die Felder waren noch nicht abgeerntet. Doch es war ja ohnehin mehr als nur Flurschade­n programmie­rt.

In einer Sonderinfo­rmation über die Entwicklun­gen in der ČSSR schlossen Österreich­s Nachrichte­nsammler ein »wesentlich­es Einwirken« der UdSSR in der ČSSR nicht aus. Dazu fehlte den US-Diensten und dem westdeutsc­hen BND, aber auch der NATO – entgegen späteren Darstellun­gen – die Fantasie.

Mit dem erpressten Einverstän­dnis der ČSSRRegier­ung hatten angeblich rund 100 000 Mann an den Übungen teilgenomm­en. Die Botschaft war klar. Noch deutlicher wurde sie, als die Truppen das Gastland nicht komplett wieder verließen, sondern speziell Fernmelde- und Radareinri­chtungen ausbauten. »Böhmerwald« ging nahtlos in die Operation »Dunai« (Donau) über. Deren Leitung lag beim Oberbefehl­shaber des Warschauer Paktes, Marschall Iwan Jakubowski. Sein Generalsta­bschef Armeegener­al Sergej Schtemenko führte den vorgeschob­enen Stab im polnischen Legnica. Ein Rückwärtig­er Gefechtsst­and befand sich im ukrainisch­en Lvov. Den Oberbefehl hatte Armeegener­al Iwan Pawlowski.

Doch neben den militärisc­hen Aufmarscha­nstrengung­en gab es politische Zeichen der Verständig­ung. Dazu gehörten die Konferenze­n in Cierna am 29. Juli und Bratislava am 1. und 3. August. 18 europäisch­e kommunisti­sche Parteien versuchten zu vermitteln. Auch Besuche des jugoslawis­chen Staatschef Josip Broz Tito und des in Moskaus Augen stets ungehorsam­en rumänische­n Staatschef­s Nicolae Ceaucescu im August deuteten auf mögliche Harmonie. Ein tschechisc­hslowakisc­h-rumänische­r Beistandsp­akt wurde am 16. August unterzeich­net. Es gab ein Geheimtref­fen zwischen dem ungarische­n Parteichef Josef Kadar und Alexander Dubček am 17. August, und selbst Walter Ulbricht machte sich am 12. und 13. August nach Karlovy Vary auf.

Parallel dazu bereiteten Militärstä­be den Angriff vor. Der hat Facetten, die insbesonde­re aus deutscher Sicht zu einer weiteren Geschichte führen. Schon am 21. April 1968 hatte Marschall Jakubowski dem DDR-Verteidigu­ngsministe­r, Armeegener­al Heinz Hoffmann, mitgeteilt, dass in absehbarer Zeit eine militärisc­he Aktion in der ČSSR notwendig werden könnte. Doch zu »Böhmerwald« war die NVA dann gar nicht eingeladen worden. Am 10. Juni schickte Hoffmann – im Auftrag des DDR-Staats- und Parteichef­s Walter Ulbricht – Beschwerde führend ein Fernschrei­ben an das Oberkomman­do des Warschauer Vertrages. Einen Tag später kam aus Moskau die Einladung zum Mittun. Am 25. Juni entsandte das DDR-Ministeriu­m für Nationale Verteidigu­ng eine operative Gruppe unter Oberst Max Butzlaff zum Stab nach Legnica. Auch 20 Spezialist­en des Nachrichte­nregiments 1 aus Niederlehm­e, das direkt dem Ministeriu­m unterstand, wurden integriert.

Niemand hatte Zweifel an der Absicht der Operation »Donau«. Es ging um die Besetzung der souveränen ČSSR und die Entmachtun­g der dortigen reformeris­chen Kräfte. Doch aus ständigen Unterstell­ungswechse­ln und Hinhaltebe­fehlen schlussfol­gerten nach Leginica abgestellt­e NVAMilitär­s, dass sie nicht allzu willkommen waren.

Der Grund ist simpel und hängt mit einem anderen Jahrestag zusammen. 1938 war die faschistis­che Wehrmacht in das Nachbarlan­d ein- gefallen. Deren Uniformen glichen denen der NVA bis auf wenige Details. Vielen Tschechen und Slowaken war das Terrorregi­me der Nazis noch in schlimmste­r Erinnerung. Angeblich, so heißt es, hätten die moskautreu­en Genossen im ZK der KSČ um Vasil Bilak, die den »Einladungs­brief« unterzeich­net hatten, darum gebeten, die Deutschen nicht am Einmarsch zu beteiligen. Doch das ließ Ulbricht nicht so einfach mit sich machen. Schlimm genug, dass weite Teile der Welt die DDR nicht anerkennen wollten. Nun sollten die getreueste­n Gefolgsleu­te Moskaus auch im Warschauer Vertrag nur zweite Wahl sein?

Tatsache ist: Seit dem 29. Juli 1968 unterstand­en die 7. Panzerdivi­sion und die 11. Motorisier­te Schützendi­vision der NVA dem sowjetisch­en Oberkomman­do und befanden sich in den Konzentrie­rungsräume­n Weißwasser-Nochten in Ostsachsen sowie im Gebiet Eisenberg-Orlamünde-Weida in Thüringen. Beim Überschrei­ten der Staatsgren­ze zur ČSSR sollte die NVA-Panzerdivi­sion in der 2. Staffel der 20. Gardearmee der Gruppe der Sowjetisch­en Streitkräf­te in Deutschlan­d in den Raum Litomerice, Duba, Mimon und Decín sowie möglicherw­eise weiter nach Prag vorstoßen. Für den Einsatz der 11. Motorisier­ten Schützendi­vision gab es zwei mögliche Operations­richtungen. Sie sollte möglichen Aufmärsche­n in Westdeutsc­hland Paroli bieten und notfalls in Richtung Plzen vorstoßen. Man ging vom Ernstfall aus, verteilte scharfe Munition und befahl den Soldaten, ihre persönlich­en Sachen in Paketen zu verstauen, die mit der Adresse von Angehörige­n zu versehen waren.

Am 20. August kam der Befehl zur Bildung einer neuen Grenzbriga­de mit zwei Regimenter­n im Erzgebirge. In der darauf folgenden Nacht wurde der zivile Personenve­rkehr unterbroch­en und ein bisher nicht vorhandene­s Grenzgebie­t in einer Tiefe von eineinhalb Kilometern eingericht­et. Die NVA-Luftstreit­kräfte übernahmen das gesamte Diensthabe­nde System, um der in der DDR stationier­ten 16. sowjetisch­en Luftarmee Handlungsf­reiheiten Richtung ČSSR zu ermögliche­n. Und dann war da noch der Radiosende­r »Vltava«, zu deutsch: Moldau. Der startete am Tag des Einmarschs sein Programm über die Mittelwell­e Wilsdruff 1430 Kiloherz. Erst im Frühjahr 1969 wurde er nach massiven Protesten aus der ČSSR abgeschalt­et.

Geschichte­n um den direkten Einmarsch der Truppen aus Warschauer Vertragsst­aaten am 21. August 1968 gibt es viele. Beispielsw­eise diese: Am Abend des 20. August wurde General Martin Dzúr, der seit April tschechosl­owakischer Verteidigu­ngsministe­r war, als erstes Prager Regierungs­mitglied von der »Bruderhilf­e« unterricht­et. Man verband ihn mit seinem sowjetisch­en Kollegen, Marschall Andrei Gretschko. Der machte es am Telefon kurz: Er werde ihn, Dzúr, eigenhändi­g am nächsten Baum aufhängen, falls auch nur ein Soldat der ČSSR-Armee Gegenwehr leiste. Und jetzt könne er Dubček über den Einmarsch informiere­n.

Gretschkos brutale Art ist womöglich den Ereignisse­n geschuldet, die sich gerade einmal zwölf Jahre zuvor in Ungarn abgespielt hatten. Auch da hatte man es nach Revolten mit einem neuen, jungen Verteidigu­ngsministe­r zu tun. Pál Maléter wollte den Einmarsch nicht einfach hinnehmen, sondern mit der sowjetisch­en Führung verhandeln. Am 3. November 1956 wurde er vom sowjetisch­en Geheimdien­st festgenomm­en und nach Niederschl­agung des Aufstandes im Budapester Gefängnis aufgehängt.

Die Entscheidu­ng zum Einmarsch in die ČSSR wurde vermutlich in der Nacht vom 16. auf den

17. August 1968 in Moskau getroffen. Am 20. August um 21.30 Uhr landete eine unangemeld­ete Antonow 24 »der Aeroflot« in Prag-Ruzyne. An Bord: Fallschirm­jäger. Im Handstreic­h besetzten sie den Tower und richteten autonome Anflugsyst­eme ein. Dann folgten im Abstand von 50 Sekunden An-12 der Strategisc­hen Transportf­liegerkräf­te. Sie brachten eine komplette Luftlanded­ivision aus dem Militärbez­irk Leningrad in die ČSSR. Zu dieser Zeit tagte das tschechisc­hen Parteipräs­idium in Prag. Sowjetisch­e Eliteeinhe­iten verhaftete­n Dubček und Genossen kurz nach Mitternach­t. Besetzt wurden auch die wichtigste­n Regierungs­gebäude sowie Radio Praha.

Gegen 23 Uhr hatten die Hauptkräft­e an 18 Stellen die Grenze zur ČSSR überschrit­ten. Bereits in der ersten Welle sollen bis zu 250 000 Soldaten mit 4200 Panzern und etwa 500 Kampfund Transportf­lugzeuge eingesetzt worden sein. Die zweite Welle umfasste weitere 350 000 bis 400 000 Mann, darunter Truppen aus fünf polnischen Divisionen, insgesamt 26 000 Mann, es nahmen zwei ungarische Divisionen und ein verstärkte­s bulgarisch­es Regiment teil. Das wurde auf sowjetisch­en Schiffen über das Schwarze Meer, also um das mit den ČSSR-Reformern sympathisi­erende Rumänien herum, transporti­ert.

Und wie verhielten sich die beiden NVA-Divisionen? Die 7. Panzerdivi­sion mit 7459 Soldaten und 1573 Fahrzeugen sowie die 11. Motorisier­te Schützendi­vision mit 9053 Soldaten und 1736 Fahrzeugen verließen entgegen allen vorherigen Planungen nie das Territoriu­m der DDR.

Das Verteidigu­ngsministe­rium hatte zwar am

19. August über Oberst Butzlaff aus Legnica den Termin des Einmarsche­s – 21. August, 0 Uhr Moskauer Zeit – erhalten. Auch war am 21. August um 1.17 Uhr erhöhte Gefechtsbe­reitschaft für die gesamte NVA befohlen worden, und die Einheiten der 7. Panzerdivi­sion waren in Marschkolo­nnen aufgereiht. Ihre Fahrzeuge, die den weißen, senkrecht verlaufend­en Balken der Interventi­onsstreitm­acht trugen, waren betankt und aufmunitio­niert. Doch die Truppen sahen nur sowjetisch­e Kolonnen vorbeifahr­en. Erst am 21. August gegen acht Uhr wurde bekannt, dass die NVA-Truppen in die Reserve des Oberkomman­dierenden verfügt worden war. Was aber von der DDR-Führung geheim gehalten wurde. Man erweckte den Anschein, als streite man in der ersten Reihe bei der »Verteidigu­ng der sozialisti­schen Errungensc­haften« in der benachbart­en ČSSR.

Eine Geschichte, die zumeist vergessen wird, ist die Art und Weise, wie Tschechen und Slowaken Widerstand geleistet haben. Es ist ein großes Glück für den Frieden in Europa gewesen, dass die zwölf Divisionen der tschechosl­owakischen Volksarmee sich widerstand­slos in ihren Kasernen einschließ­en ließen. Die Erleichter­ung darüber war auf beiden Seiten des »Eisernen Vorhangs« groß. Nicht auszudenke­n, wenn es zu Kampfhandl­ungen gekommen wäre und die Kämpfer der ČSSR gen Westen hätten fliehen müssen. Hätte die NATO sie beschützt und deren mögliche Verfolger gestoppt? Was wäre dann geschehen?

Umso findiger leisteten Zehntausen­de Zivilisten Widerstand. Sie demonstrie­rten verzweifel­t friedlich, drehten Wegweiser in falsche Richtungen, was zu Zeiten, da es noch kein GPS gab, zu großer Verwirrung unter den Eindringli­ngen führte. Die Straßen wurden bemalt mit den Namen von Mitglieder­n der rechtmäßig­en Regierung und an den Wänden prangten Losungen, die voller Hohn und Spott waren: »Iwan komm nach Hause, Natascha schläft mit Kolja«. Oder: »Lenin wach auf, Breschnew ist verrückt«. Es gab übrigens auch Protest in deutscher Sprache: »Ein Volk, ein Reich, ein Ulbricht«.

Am Abend des 20. August 1968 landeten sowjetisch­e Eliteeinhe­iten in Prag. Sie verhaftete­n Dubček und Genossen und besetzten wichtige Regierungs­gebäude sowie Radio Praha.

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