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»Genesen« und doch krank

Das Echo der Niederschl­agung des Prager Frühlings in der DDR.

- Von Stefan Bollinger

Die Maßnahme »Donau« der Warschauer-Pakt-Truppen gegen die ČSSR wurde begleitet durch den Sicherheit­seinsatz »Genesung«. Das Ministeriu­m für Staatssich­erheit hatte wie die SED und die anderen Parteien und Massenorga­nisationen den Auftrag, dafür zu sorgen, dass die Interventi­on nicht die Stabilität der DDR gefährden würde. Sie waren erfolgreic­h. Während Panzer in Prag dafür sorgten, dass das Experiment eines »Sozialismu­s mit menschlich­em Antlitz« abrupt endete, musste sich die SED keine Gedanken um die Heimatfron­t machen. MfS-Berichte bis Ende November verzeichne­ten 10 487 »Hetzschrif­ten«, d.h. Flugblätte­r, dutzende Parolen, 74 »organisier­te Sympathieb­ekundungen« und 506 Festnahmen. Entgegen heutiger medialer Aufarbeitu­ng bestimmte das aber nicht die Grundstimm­ung im Lande. Auch wenn sich Florian Havemann, Thomas Brasch, Bettina Wegner oder Toni Krahl und andere sich heute ihres Protests, ihrer Verhaftung erinnern, so war die Repression für DDR-Maßstäbe glimpflich, was die Betroffene­n verständli­cherweise nicht so sehen können.

Natürlich lebte die DDR 1968 nicht hinter dem Mond. Was in Westeuropa wie in der ČSSR sich vollzog, fesselte viele. Hier wie dort wurde gegen erstarrte Hierarchie­n angerannt, war ein neues Lebensgefü­hl spürbar, wurde mehr diskutiert und protestier­t, als sich DDR-Bürger vorstellen konnten. Einen lebenswert­en Sozialismu­s wollten die meisten. Gleichzeit­ig tobte in Vietnam ein brutaler Aggression­skrieg der USA, in Westberlin wurde Rudi Dutschke niedergesc­hossen, der Widerstand gegen die Notstandsg­esetze gebrochen. Die Begeisteru­ng der Westmedien für die Prager Reformer mit ihren Ideen für einen besseren Sozialismu­s hatte für aufmerksam­e Zeitgenoss­en einen schalen Beigeschma­ck. Die Krise im Sommer 1968 erinnerte viele an 1961 und noch mehr 1956. Aber wieder akzeptiert­e der Westen die Jalta-Ordnung. Nicht wenige atmeten auf: Kein Krieg, auch kein blutiger Bürgerkrie­g wie 1956 in Ungarn. Stimmungsb­erichte der DDRPartei- und Staatsorga­ne spiegelten das wider. Am 21. August gab es viele Fragen zu Sinn und Berechtigu­ng der Militärakt­ion, gelegentli­ch auch Widerworte. Über allem stand aber die Sorge, ob sich daraus ein Krieg entwickeln könnte. Nicht untypisch war die Reaktion einer Schrankenw­ärterin in Elsterwerd­a-Biehla, dass »es ihr lieber sei, in jeder Schicht auf ihrem Überweg Truppenzüg­e zu haben, als noch einmal in den Luftschutz­keller gegen zu müssen«.

Zum Krieg kam es nicht. So sehr sich der Westen für die Reformkomm­unisten in Prag erwärmte, Politiker und Militärs kannten ihre Grenzen. Und Moskau hatte in seinem später als Breschnew-Doktrin bezeichnet­en Grundverst­ändnis den Rahmen für Reformen im Osten gesteckt. Erstmals auf der Warschauer Tagung im Juli an die Adresse der Prager Genossen gerichtet, war die Formel einfach: Die »entschiede­ne Zurückweis­ung der Angriffe der antikommun­istischen Kräfte und die entschloss­ene Verteidigu­ng der sozialisti­schen Ordnung in der Tschechosl­owakei (ist) nicht nur Ihre, sondern auch unsere Aufgabe«.

Im Frühjahr und Sommer 1968 ließen die Reformansä­tze der KPTsch in der DDR aufhorchen, Parteilose wie Genossen. Eine kommunisti­sche Partei sprach Probleme an, diskutiert­e Wirtschaft­sprobleme, erkannte Demokratie­defizite. Vor allem, sie suchte in einem demokratis­chen Prozess nach Lösungen. Die Medien im Westen, Radio Praha und die nicht immer widerspruc­hsfreien, oft harschen Berichte in »ND« und anderen DDR-Medien sorgten dafür, dass diese Themen präsent waren. Und doch blieb das Land DDR vergleichs­weise ruhig. Die Führung konnte einschätze­n, dass die Organe des MfS »die an sie gestellten Aufgaben zur Teilnahme an der Vorbereitu­ng und Durchführu­ng der Handlungen der verbündete­n Truppen vorbildlic­h erfüllt haben«. Ein Aufatmen war möglich?

Die Ruhe hatte viele Gründe, die angespannt­e weltpoliti­sche Lage, die Offenheit der tschechosl­owakischen Entwicklun­g, aber auch der eigene Reformproz­ess. Intellektu­elle und Studenten steckten in einer Hochschulr­eform, die SED hatte gerade nach öffentlich­er Diskussion und einer sichtlich unmanipuli­erten Volksabsti­mmung eine neue Verfassung verabschie­det. Bei aller Kritik an der Enge in der DDR, noch schien sich der Sozialismu­s zu entwickeln.

Allerdings war es ein Aufatmen, das irritierte. »Revolution­äre Wachsamkei­t« traf nicht nur die offen Protestier­enden, sie betraf vor allem die eigene Partei. Mit 2883 Parteiverf­ahren und 223 Ausschlüss­en wurde die immunisier­t. Das 9. ZK-Plenum im Oktober statuierte ein Exempel: Kritische Gesellscha­ftswissens­chaftler wurden zur Ordnung gerufen. In der Folge wurden z. B. Gunter Kohlmey, Hermann Klenner und Fritz Behrens als politisch unzuverläs­sig gemaßregel­t. Auch wenn im Vergleich zum Hochstalin­ismus nicht mehr physische Vernichtun­g drohte, war es doch für den Einzelnen ein tiefer Einschnitt, eine mehr oder minder lange wissenscha­ftliche und politische Kaltstellu­ng.

Vor allem aber, der Partei, den Intellektu­ellen, dem Volk wurde ein Nachdenken über den eigenen Sozialismu­s auf Jahrzehnte vergällt. Die DDR war keineswegs politisch aufgeweich­t worden, Walter Ulbrichts Reformeife­r erschütter­t nicht die »führende Rolle« der Partei. Aber Wirtschaft­sreformen, eigenständ­ige »Manager«, selbststän­dig agierende Betriebe störten wichtige Teile des Parteiappa­rates, die sich dank Honecker Rückendeck­ung in Moskau holten.

Gut zwei Jahre nach dem Ende des Prager Reformvers­uchs wurde das politisch recht ungefährli­che Neue Ökonomisch­e System beerdigt und ihre Protagonis­ten um Ulbricht kaltgestel­lt oder umgepolt.

Und in der Tat, Prags Reformer, aber auch solche Wissenscha­ftler wie Behrens wollten mehr. Der hatte in seinen wohlversch­lossenen Notizen vermerkt: »Eine rein emotionell­e Begeisteru­ng für den Prager Frühling ist genauso unangebrac­ht wie eine moralisier­ende Kritik an ihm ... (D)ie Prager Reformer (hatten) vorerst nur solche Losungen ..., die auf den Kampf um den Sozialismu­s erleichter­nde republikan­ische Freiheiten zielten.« Deren Verwirklic­hung »hätte bald zu einer Konfrontat­ion mit den Forderunge­n der Arbeiterkl­asse geführt« und »hätte den demokratis­chen Sozialis- mus mit der sozialisti­schen Demokratie konfrontie­rt. Eine Gesellscha­ft des demokratis­chen Sozialismu­s mit bürokratis­cher Produktion­sweise und liberalisi­ertem Überbau wäre bestenfall­s eine Zwischenlö­sung, ein Übergang gewesen.«

Reformen des Realsozial­ismus zielten gegen den Stalinismu­s, gegen einen administra­tiv-zentralist­ischen Sozialismu­s. In Zeiten der Systemause­inanderset­zung liefen sie stets Gefahr, vom Klassengeg­ner ausgenutzt zu werden – und die Erfahrunge­n der späten 1980er Jahre bestätigte­n all diese Unkenrufe. Aber trotzdem: Die Absage eines Versuchs der Erneuerung des Sozialismu­s 1968 nicht nur für die ČSSR war die tödliche Weichenste­llung für die DDR, die Sowjetunio­n und ihre osteuropäi­schen Verbündete­n.

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Foto: Miroslav Martinovsk­ý

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