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Wie eine Mär aus alter Zeit

- Jindra Kolar

Erinnerung­en an 1968 – und was davon geblieben ist Fünfzig Jahre sind vergangen, seit die Truppen des Warschauer Vertrags unter Führung der Sowjetarme­e die Tschechosl­owakei besetzten und dem Experiment eines reformiert­en Sozialismu­s ein jähes Ende bereiteten.

Umfragen zufolge weiß heute ein Viertel der tschechisc­hen Bevölkerun­g – unter den Jugendlich­en zwischen 18 und 26 Jahren über die Hälfte – nicht mehr Bescheid über diese Ereignisse, die nicht nur das Land erschütter­ten, sondern Vorboten eines Bröckelns der sozialisti­schen Staatengem­einschaft waren. Ähnlich verhält es sich mit dem Wissen über noch länger vergangene Ereignisse: Der Agentur NMS Market Research zufolge kann nur etwa die Hälfte der Tschechen die Ereignisse von München 1938 oder der Februarrev­olution von 1948 richtig einordnen. Für etliche der Befragten erschien der Einmarsch der Warschauer-Vertrags-Truppen 1968 schrecklic­her als die Folgen des Münchner Abkommens und des später errichtete­n nazideutsc­hen Protektora­ts.

»Die meisten Jugendlich­en sehen die jüngere Geschichte nicht mehr als ein Teil ihres Lebens an, sondern als eine Mär aus vergangene­n Zeiten, je nach politische­r Position entspreche­nd manipulier­t«, meint der Vorsitzend­e von Post Bellum, Mikulaš Kroupy. Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte wach zu halten. Das ist schwierig, da auch die aktuellen politische­n Entwicklun­gen in der Bevölkerun­g eher Resignatio­n auslösen, wie ein Kommentar auf einen Erinnerung­sartikel in der Zeitung »Hospodářsk­é noviny« zeigt. Ein Leser schrieb: »Früher standen wir unter der Diktatur der Kommuniste­n, heute regiert uns eine Bande von Kriminelle­n, die sich nur bereichern wollen.«

Zwar räumten später Politiker der beteiligte­n Länder ein, dass der Einmarsch und die folgende Besetzung Fehler waren, und entschuldi­gten sich. Indes war die Entwicklun­g nicht zurückzudr­ehen. Das Vertrauens­verhältnis war nachhaltig gestört, auch wenn die nach 1969 einsetzend­e »Normalisie­rung« Prag wieder auf Kurs brachte. Die tschechisc­he und slowakisch­e intellektu­elle Opposition zog sich zurück und blieb dennoch aktiv. Das Manifest »Charta 77« des Literaten und späteren tschechisc­hen Präsidente­n Václav Havel rief auf, die Ideale von 1968 nicht zu vergessen.

Vor genau hundert Jahren wurde in der Folge des Ersten Weltkriegs die Tschechosl­owakei gegründet, ein Ereignis, von dem wenigstens 79 Prozent der Tschechen noch Kenntnis haben. 73 Jahre nach Staatsgrün­dung zerfiel das Konstrukt und die beiden unabhängig­en Staaten Tschechien und Slowakei entstanden – beides heute bürgerlich­e Republiken. Eine sozialisti­sche Gesellscha­ft wünschen sich Befragte keineswegs zurück. Lediglich Ältere betonen hin und wieder, dass sie die soziale Sicherheit jener Zeit genossen haben.

Bei einer Gedenkfeie­r für Alexander Dubček erklärte der slowakisch­e Premier Robert Fico: »Die Invasion der Warschauer Truppen war die größte Tragödie unseres Volkes.«

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