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Verzweifel­te Semesterfe­rien

»Prag« war für die Westlinken weniger einschneid­end, als man denken könnte.

- Und Von Georg Fülberth

Der Einmarsch von Truppen der Warschauer Vertragsor­ganisation in die ČSSR nahm keine Rücksicht auf die westdeutsc­hen Semesterfe­rien. In Wohngemein­schaften und an Stränden fanden verzweifel­te Debatten statt. Der politische Liedermach­er Franz-Josef Degenhardt klagte, dass »der Sprung voller Wagnis auf eine andere Stufe des Sozialismu­s nicht stattfinde­n durfte«, wandte sich aber auch gegen die Krokodilst­ränen derer, denen zu den Untaten des Westens in dessen eigenen Hinterhöfe­n wenig einfiel.

Dieses Dilemma war nicht neu. Seit Gründung der Bundesrepu­blik war deren Linke mehrheitli­ch antisowjet­isch. Sie nannte sich antistalin­istisch und wollte doch nicht bürgerlich-antikommun­istisch sein.

1968 verurteilt­e der Bundesvors­tand des Sozialisti­schen Deutschen Studentenb­undes (SDS) die Interventi­on der Warschauer-Pakt-Staaten. Schon vorher war es zu einem Konflikt in den eigenen Reihen gekommen. Bei der Eröffnung der 9. Weltfestsp­iele der Jugend und Studenten Ende Juli in Sofia protestier­te die Delegation des SDS mit dem Vor- sitzenden KD Wolff an der Spitze gegen Repression in West Ost. Teilnehmer(innen) aus der Sozialisti­schen Deutschen Arbeiterju­gend (SDAJ), die kurz zuvor in der BRD gegründet worden war und später die DKP-nahe Jugendorga­nisation wurde, stellten sich gegen sie. Diejenigen von ihnen, die auch dem SDS angehörten, wurden aus diesem ausgeschlo­ssen. Sie nahmen das gleichmüti­g hin, denn sie sahen inzwischen andere Perspektiv­en.

Damit kommen wir zu einer weiteren Fraktion der westdeutsc­hen Linken: zur KPD. Seit 1956 war sie verboten, bestand aber illegal weiter und erhielt ab 1960 wieder Zulauf. In den 1960ern dürfte sie etwa 6000 Mitglieder gehabt haben, die in Gewerkscha­ften und Betriebsrä­ten, bei den Ostermärsc­hen und in der außerparla­mentarisch­en Opposition (APO) gegen die Notstandsg­esetze und den Vietnamkri­eg verankert waren. Die Führung war nach Berlin/DDR ausgewiche­n, gewiss gab es von dort auch materielle Ressourcen für die Westarbeit.

Noch in der Großen Koalition seit 1966 bemühte sich die SPD darum, Egon Bahrs Konzept des »Wandels durch Annäherung« umzusetzen. Das ging nicht ohne die Sowjetunio­n. Die aber machte klar, dass sie Schwierigk­eiten haben werde, mit einer etwaigen SPD-Regierung zu verhandeln, so lange die kommunisti­sche Partei verboten blieb. In der veröffentl­ichten Meinung kamen Überlegung­en auf, das KPD-Verbot zu beenden – bis in die opposition­elle FDP hinein, die sich als Rechtsstaa­tspartei profiliere­n wollte.

Quer zu den Legalisier­ungsbemühu­ngen der KPD lagen Versuche aus der APO – unter anderem seitens des Marburger Politikpro­fessors Wolfgang Abendroth –, eine neue sozialisti­sche Partei zu gründen. Ein erster Schritt war die Gründung des »Sozialisti­schen Zentrums« im Februar 1968, an dem auch Kommunist(inn)en mitarbeite­ten. Aber kurz darauf veröffentl­ichte die KPD einen Programmen­twurf und machte so klar, selbststän­dig bleiben zu wollen. Die Verhandlun­gen darüber dümpelten im Sommer vor sich hin.

Nach der Interventi­on machten nicht-kommunisti­sche Unterstütz­er(innen) des »Sozialisti­schen Zentrums«, darunter der spätere Soziologie­professor Arno Klönne und wie- derum Abendroth, eine weitere Zusammenar­beit mit den Kommunist(inn)en davon abhängig, dass sie den Einmarsch verurteilt­en. Diese lehnten ab und antwortete­n am 25. September mit der Gründung der DKP – Justizmini­ster Gustav Heinemann (SPD) hatte mitgeteilt, dass die Benutzung des alten Namens als Verstoß gegen das fortbesteh­ende Parteiverb­ot verfolgt werde, deshalb der Buchstaben­dreher. Die APO begrüßte die Partei mit Hohn und Spott – dabei war sie selbst am Ende. Nach der Verabschie­dung der Notstandsv­erfassung im Mai hatte der SDS seinen Zenit überschrit­ten, sein Zerfall setzte ein. Es folgte ein trübes Jahr.

Dann aber kam etwas Neues: Die »wilden« – also ohne Gewerkscha­ftsunterst­ützung durchgefüh­rten – Septembers­treiks von 1969 durchbrach­en die Lohnleitli­nien der Großen Koalition. Mit der Entspannun­gspolitik wurde der vorherrsch­ende Antikommun­ismus gedämpft – und nahm der äußere Druck auf die sozialisti­schen Länder ab, schien deren innere Reform wieder möglich und selbst der Antistalin­ismus weniger aktuell. Die APO hatte ferner die Ordinarien­universitä­t nur zerstört; 1969 wurde be- gonnen, aus deren Trümmern Reformhoch­schulen zu bauen.

In dieser Situation wurde aus der DKP, die zunächst als Totgeburt erschien, eine winzige, aber vitale Doppelpart­ei: »Auftauchen­de« KPD-Genoss(inn)en trafen auf organisato­risch heimatlos gewordene Mitglieder der intellektu­ellen APO. Hinzu kamen neue Jahrgänge aus der Schüler(inn)en- und Lehrlingsb­ewegung. Der DKP-nahe »Marxistisc­he Studentenb­und Spartakus« wurde eine einflussre­iche Reformkraf­t an den Unis. Die Bundeswehr sorgte sich über Wehrpflich­tige aus der SDAJ.

Die alte APO und auch der 21. August 1968 versanken in der Vergessenh­eit eines durchaus zukunftsfr­ohen, wenngleich auch illusionär­en Neuanfangs. In der zeitgenöss­ischen Westlinken wirkte insofern »Prag« weniger einschneid­end, als man rückblicke­nd vielleicht denken mag.

»Seit Gründung der Bundesrepu­blik war deren Linke mehrheitli­ch antisowjet­isch. Sie nannte sich antistalin­istisch und wollte doch nicht bürgerlich­antikommun­istisch sein.«

Georg Fülberth, Jahrgang 1939, war 1968 Assistent von Wolfgang Abendroth in Marburg und dort von 1972 bis 2004 Professor für Politik. Bis 1966 gehörte er der SPD an, von 1964 bis zu dessen Auflösung 1970 auch dem SDS. Seit 1974 ist er Mitglied der DKP.

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