Verzweifelte Semesterferien
»Prag« war für die Westlinken weniger einschneidend, als man denken könnte.
Der Einmarsch von Truppen der Warschauer Vertragsorganisation in die ČSSR nahm keine Rücksicht auf die westdeutschen Semesterferien. In Wohngemeinschaften und an Stränden fanden verzweifelte Debatten statt. Der politische Liedermacher Franz-Josef Degenhardt klagte, dass »der Sprung voller Wagnis auf eine andere Stufe des Sozialismus nicht stattfinden durfte«, wandte sich aber auch gegen die Krokodilstränen derer, denen zu den Untaten des Westens in dessen eigenen Hinterhöfen wenig einfiel.
Dieses Dilemma war nicht neu. Seit Gründung der Bundesrepublik war deren Linke mehrheitlich antisowjetisch. Sie nannte sich antistalinistisch und wollte doch nicht bürgerlich-antikommunistisch sein.
1968 verurteilte der Bundesvorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) die Intervention der Warschauer-Pakt-Staaten. Schon vorher war es zu einem Konflikt in den eigenen Reihen gekommen. Bei der Eröffnung der 9. Weltfestspiele der Jugend und Studenten Ende Juli in Sofia protestierte die Delegation des SDS mit dem Vor- sitzenden KD Wolff an der Spitze gegen Repression in West Ost. Teilnehmer(innen) aus der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ), die kurz zuvor in der BRD gegründet worden war und später die DKP-nahe Jugendorganisation wurde, stellten sich gegen sie. Diejenigen von ihnen, die auch dem SDS angehörten, wurden aus diesem ausgeschlossen. Sie nahmen das gleichmütig hin, denn sie sahen inzwischen andere Perspektiven.
Damit kommen wir zu einer weiteren Fraktion der westdeutschen Linken: zur KPD. Seit 1956 war sie verboten, bestand aber illegal weiter und erhielt ab 1960 wieder Zulauf. In den 1960ern dürfte sie etwa 6000 Mitglieder gehabt haben, die in Gewerkschaften und Betriebsräten, bei den Ostermärschen und in der außerparlamentarischen Opposition (APO) gegen die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg verankert waren. Die Führung war nach Berlin/DDR ausgewichen, gewiss gab es von dort auch materielle Ressourcen für die Westarbeit.
Noch in der Großen Koalition seit 1966 bemühte sich die SPD darum, Egon Bahrs Konzept des »Wandels durch Annäherung« umzusetzen. Das ging nicht ohne die Sowjetunion. Die aber machte klar, dass sie Schwierigkeiten haben werde, mit einer etwaigen SPD-Regierung zu verhandeln, so lange die kommunistische Partei verboten blieb. In der veröffentlichten Meinung kamen Überlegungen auf, das KPD-Verbot zu beenden – bis in die oppositionelle FDP hinein, die sich als Rechtsstaatspartei profilieren wollte.
Quer zu den Legalisierungsbemühungen der KPD lagen Versuche aus der APO – unter anderem seitens des Marburger Politikprofessors Wolfgang Abendroth –, eine neue sozialistische Partei zu gründen. Ein erster Schritt war die Gründung des »Sozialistischen Zentrums« im Februar 1968, an dem auch Kommunist(inn)en mitarbeiteten. Aber kurz darauf veröffentlichte die KPD einen Programmentwurf und machte so klar, selbstständig bleiben zu wollen. Die Verhandlungen darüber dümpelten im Sommer vor sich hin.
Nach der Intervention machten nicht-kommunistische Unterstützer(innen) des »Sozialistischen Zentrums«, darunter der spätere Soziologieprofessor Arno Klönne und wie- derum Abendroth, eine weitere Zusammenarbeit mit den Kommunist(inn)en davon abhängig, dass sie den Einmarsch verurteilten. Diese lehnten ab und antworteten am 25. September mit der Gründung der DKP – Justizminister Gustav Heinemann (SPD) hatte mitgeteilt, dass die Benutzung des alten Namens als Verstoß gegen das fortbestehende Parteiverbot verfolgt werde, deshalb der Buchstabendreher. Die APO begrüßte die Partei mit Hohn und Spott – dabei war sie selbst am Ende. Nach der Verabschiedung der Notstandsverfassung im Mai hatte der SDS seinen Zenit überschritten, sein Zerfall setzte ein. Es folgte ein trübes Jahr.
Dann aber kam etwas Neues: Die »wilden« – also ohne Gewerkschaftsunterstützung durchgeführten – Septemberstreiks von 1969 durchbrachen die Lohnleitlinien der Großen Koalition. Mit der Entspannungspolitik wurde der vorherrschende Antikommunismus gedämpft – und nahm der äußere Druck auf die sozialistischen Länder ab, schien deren innere Reform wieder möglich und selbst der Antistalinismus weniger aktuell. Die APO hatte ferner die Ordinarienuniversität nur zerstört; 1969 wurde be- gonnen, aus deren Trümmern Reformhochschulen zu bauen.
In dieser Situation wurde aus der DKP, die zunächst als Totgeburt erschien, eine winzige, aber vitale Doppelpartei: »Auftauchende« KPD-Genoss(inn)en trafen auf organisatorisch heimatlos gewordene Mitglieder der intellektuellen APO. Hinzu kamen neue Jahrgänge aus der Schüler(inn)en- und Lehrlingsbewegung. Der DKP-nahe »Marxistische Studentenbund Spartakus« wurde eine einflussreiche Reformkraft an den Unis. Die Bundeswehr sorgte sich über Wehrpflichtige aus der SDAJ.
Die alte APO und auch der 21. August 1968 versanken in der Vergessenheit eines durchaus zukunftsfrohen, wenngleich auch illusionären Neuanfangs. In der zeitgenössischen Westlinken wirkte insofern »Prag« weniger einschneidend, als man rückblickend vielleicht denken mag.
»Seit Gründung der Bundesrepublik war deren Linke mehrheitlich antisowjetisch. Sie nannte sich antistalinistisch und wollte doch nicht bürgerlichantikommunistisch sein.«
Georg Fülberth, Jahrgang 1939, war 1968 Assistent von Wolfgang Abendroth in Marburg und dort von 1972 bis 2004 Professor für Politik. Bis 1966 gehörte er der SPD an, von 1964 bis zu dessen Auflösung 1970 auch dem SDS. Seit 1974 ist er Mitglied der DKP.