Ota Filip
Der Brief, den wir hier erstmals veröffentlichen, hätte schon vor 50 Jahren gedruckt werden sollen. Das hatte jedenfalls sein Autor beabsichtigt, als er am 27. Juli 1968 (so sein handschriftlicher Vermerk neben der Unterschrift) die zweieinhalb Seiten Text in die Maschine tippte: »An das Kollektiv der Redakteure und Mitarbeiter der Redaktion der Zeitung Neues Deutschland, Berlin«. Registriert wurde der Brief in der ND-Redaktion mit Datum vom 2. August. Man kann ange- sichts des kritischen Inhalts davon ausgehen, dass ihn nicht viele Menschen zu Gesicht bekamen. Abgeheftet wurde er in der Kategorie »Briefe, die nicht beantwortet werden!«.
Dass der Brief jetzt publiziert werden kann, ist einem ehemaligen nd-Kollegen zu verdanken, der sich in ein paar Archivordner vertiefte, die die Zeiten überdauerten. Der Name Ota Filip fiel ihm auf, denn Filip ist einer der prominentesten tschechoslowakischen Schriftsteller, die sich in den 60er Jahren für eine Demokratisierung des Sozialismus einsetzten.
Filip, geboren 1930 in Ostrava (damals Ostrau), studierte Literatur und Journalistik und begann frühzeitig zu schreiben. 1959 trat er der Kommunistischen Partei bei, wurde aber schon ein Jahr später wegen kritischer Äußerungen wieder ausgeschlossen und sogar zu einer Haftstrafe verurteilt. Damit waren literarische Veröffentlichungen ausgeschlossen; er schrieb dennoch weiter und arbeitete als Bergarbeiter, Lkw-Fahrer und auf dem Bau. Einige seiner Manuskripte gelangten in den Westen, über diesen Umweg erlangte er künstlerisches Ansehen, was ihm 1967 sogar einen Literaturpreis seiner Heimatstadt Ostrava einbrachte. 1968, als sich die strikten Verhältnisse lockerten, arbeitete er als Verlagslektor und setzte sich für die Politik Dubčeks ein.
Dann ein Déjà-vu: Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings wurde er verhaftet, angeklagt, zu 18 Monaten Haft verurteilt. Danach verdiente er sein Geld als Möbelmonteur, Kraftfahrer und auf dem Bau – wie gehabt. Bis er und seine Familie 1974 ausgebürgert wurden; seitdem lebte und schrieb er in Westdeutschland.
Ende der 90er Jahre holte ihn die Vergangenheit ein: Vorwürfe der Zusammenarbeit mit dem tschechoslowakischen Geheimdienst wurden gegen ihn erhoben. Filip räumte ein, im Gefängnis unter Druck gesetzt worden zu sein, beharrte aber darauf, niemandem geschadet zu haben. Sein Sohn Pavel, ein Mathematikprofessor, nahm sich das Leben, nachdem die Anschuldigungen bekannt geworden waren.
Den Autor des Briefs konnten wir zu seinen Erinnerungen nicht mehr befragen. Ota Filip ist am 2. März dieses Jahres in Garmisch-Partenkirchen gestorben.