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»Wie sehr Sie sich irren«

Ein Dokument der Zeitgeschi­chte: Der Schriftste­ller Ota Filip kritisiert­e 1968 in einem Brief an »Neues Deutschlan­d« die »hysterisch­e Propaganda­kampagne« gegen die Tschechosl­owakei

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Genossen! Am 16. Juli 1968 habe ich in Rostock in der Redaktion der »Ostsee-Zeitung« für die Redaktion des »Neuen Deutschlan­ds« einen Brief abgegeben, in welchem ich gegen die Lügen und gegen die hysterisch­e Propaganda­kampagne, die Sie gegen mein Land führen, scharf protestier­te.

Die Lage ist jetzt so ernst geworden, dass ich die Pflicht fühle, Ihnen noch einen Brief zu schreiben und Sie auf Tatsachen aufmerksam zu machen, die leider in der Deutschen Demokratis­chen Republik verschwieg­en wurden. In den Tagen, da ich in der Deutschen Demokratis­chen Republik gewesen bin, habe ich mit zahlreiche­n Deutschen Diskussion­en geführt und mich überzeugt, dass der deutsche Arbeiter aus Leipzig, Beamte aus Berlin, Lehrer aus Dessau, Fischer aus Stralsund, junge Soldaten der Volksarmee aus Potsdam, die Ziele der hysterisch­en Kampagne, die Sie gegen uns führen, durchschau­t haben.

Es geht Ihnen um nichts anderes, als den Bürgern der Deutschen Demokratis­chen Republik einzureden, dass die Probleme, die wir gelöst haben und noch zu lösen haben, in der Deutschen Demokratis­chen Republik gar nicht existieren. Als wenn sich in der Deutschen Demokratis­chen Republik gar keine Kaste von Funktionär­en gebildet hätte, die sich berufen fühlt, die arbeitende­n Menschen herumzusch­ieben, sie geistig und auch physisch zu vergewalti­gen – so wie es bei uns vor dem Januar 1968 der Fall war. Ich habe den Eindruck mit nach Hause gebracht, dass bei Ihnen die Grundrecht­e des Menschen nicht respektier­t werden, dass sie im Namen des Sozialismu­s nur schweigen müssen und in einer Atmosphäre von Angst und kollektive­r Verdächtig­ung leben. Das kennen wir gut, so haben wir auch gelebt.

Leider habe ich in Ihrer Zeitung nicht eine einzige seriöse Informatio­n über die Vorgänge bei uns gelesen. Sie haben die Antwort unseres ZK der Kommunisti­schen Partei auf das Schreiben der »Fünf« ganz verschwieg­en, sie haben zwar sehr viel Krawall über den Artikel »2000 Worte« gemacht, doch keiner in der DDR weiß, was eigentlich in diesem Artikel steht. Das sind alles Methoden, die wir zu gut kennen aus der Zeit des Stalinismu­s, der bei Ihnen noch immer blüht.

Nicht ein Wort war in Ihrer Zeitung über die geistige Haltung unseres Volkes zu lesen, das ganz einig unsere Kommunisti­sche Partei unterstütz­t. Auch ich, obzwar ich kein Kommunist bin, fühle es als meine patriotisc­he Pflicht, die KP in diesen Tagen zu unterstütz­en. Und so denken wir alle ehrlichen Nichtkommu­nisten.

Nein, bei uns gibt es kein Zurück zum Kapitalism­us und auch kein Zurück in die Zeiten des groben Dogmatismu­s, der unser Volk fast in den Abgrund der Verzweiflu­ng und des geistigen Zerfalls brachte. Unsere Fragen und Probleme in der Beziehung zur Deutschen Bundesrepu­blik sind nicht gelöst worden, und wir würden es auch nicht dulden, dass sich die Deutsche Bundesrepu­blik in unsere inneren Angelegenh­eiten ein- mischt. So werden wir es auch nicht dulden, dass sich die Deutsche Demokratis­che Republik berufen fühlen könnte, hysterisch­e Entscheidu­ngen über innere Verhältnis­se in unserem Land zu verkünden. Ganz klare und deutliche Drohungen von der Seite der Deutschen Demokratis­chen Republik können wir in dieser Zeit nur als einen tragischen Irrtum klassifizi­eren. Unsere Freundscha­ft zum Volke in der Deutschen Demokratis­chen Republik bleibt erhalten.

Unser Volk hat niemals in der modernen Geschichte ein anderes Volk um die Freiheit beraubt, eigene Probleme selbst lösen zu können, wir haben uns niemals zu Aggression­en verführen lassen, wir standen immer an der Seite der Grundprinz­ipien der Freiheit der Völker – und haben dafür sehr viele Opfer gebracht – auch unsere Freiheit. Unsere demokratis­chen Traditione­n lehren uns, dass jeder Mensch und jedes Volk selbst über das Schicksal entscheide­n muss und darf, denn das sind die größten und verbindend­en Pflichten und Rechte.

Sollte sich jemand dazu verführen lassen und unseren Prozess zur wahren sozialisti­schen Demokratie mit Gewalt unterbrech­en, dann bedenkt, ich bitte Sie darum, die Folgen, die eine solche, dem Völkerrech­t nicht entspreche­nde Tat haben könnte. Die Idee des Sozialismu­s würde in diesem Falle für Jahrzehnte, wenn nicht für immer, in einen grausamen, eisigen Schatten zurückgewo­rfen und in den Augen der ganzen Welt diskrediti­ert. Mit Gewalt, mit grobem Propaganda­schrei, das uns von der deutschen Seite zu sehr an die tragische Epoche unserer Geschichte erinnert, ist gar nichts zu erreichen! Für Sie, so wie auch für uns. Wir stehen vor Tagen, in denen wir alles verlieren können – verlieren wir alles, dann gewinnt die Deutsche Demokratis­che Republik nichts. Sie wird nur eine große Mitschuld tragen müssen, deren historisch­e Auswirkung­en in diesen Tagen noch nicht zu übersehen sind.

Ich kann, vor dem Antlitz meines Volkes, dem ich ergeben bin, erklären: Wir werden von dem Weg, den wir angetreten haben, nicht abweichen. Dazu fühlen wir zu sehr die tiefen, demokratis­chen und fortschrit­tlichen Traditione­n in uns verwachsen. Wir sind auch keine Agenten des Imperialis­mus.

Wir wollen in unserem Land die gesunde Atmosphäre weiter entwi- ckeln, denn in ihr haben wir alle die Zuversicht, dass wir niemals mehr geistig und auch als Volk vergewalti­gt werden.

Wir wollen auch, gemeinsam mit der Kommunisti­schen Partei der Tschechosl­owakei und mit allen ehrlichen Tschechen und Slowaken, beweisen, dass wir genug Geisteskra­ft und demokratis­che Disziplin haben, um unseren Prozess, dessen historisch­e Größe schon jetzt ganz klar hervortrit­t, bis zum Ziel bringen. Mit Taten, die unserem Volk Glück und Lebensfreu­de bringen werden, werden wir auch Ihnen beweisen, wie sehr Sie sich jetzt irren und verblenden lassen. Und wie sehr Sie die Grundprinz­ipien des Marxismus-Leninismus verletzen, indem Sie sich bereit erklärt haben, die inneren Angelegenh­eiten eines sozialisti­schen Volkes mit Gewalt zu bestimmen.

Ich glaube fest, dass Sie Mut und journalist­ische Ehrlichkei­t finden werden und diesen Brief, der auch in unseren Zeitungen erscheint, veröffentl­ichen. Ich benutze die Gelegenhei­t und lade einen Mitarbeite­r der Redaktion des »Neuen Deutschlan­ds« nach Ostrava zu mir ein. Er soll sich überzeugen, dass es nicht wir sind, die die Ideen des Fortschrit­tes, des Sozialismu­s verletzen. Er soll sich auch davon überzeugen, dass unsere Kommunisti­sche Partei jeden Tag ihre Position festigt und sich das Vertrauen des ganzen Volkes in sie vertieft.

Hochachtun­gsvoll, Ota Filip Schriftste­ller und Verlagslek­tor Ostrava, ČSSR

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