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Matera sollte geflutet werden

Die italienisc­he Stadt wird Europäisch­e Kulturhaup­tstadt 2019.

- Von Stephan Brünjes

Es fängt an wie in fast jeder italienisc­hen Altstadt: Ein Bummel durch Gassen mit kleinen Läden, Obstkarren und Straßenhän­dlern. Durch einen Torbogen geht es auf eine Aussichtsp­lattform. Nichts und niemand bereitet die Besucher auf das nun in den Blick geratene Panorama vor: ein Schlund von fast 180 Grad. Drei, vier Stockwerke tief geht es hinunter in diese Schlucht, die der Fluss Gravina jahrtausen­delang in den weichen Tuffstein gewaschen hat. Bebaut ist die kraterarti­ge Senke fast bis zum Horizont mit beigefarbe­nen Kastenhäus­ern, scheinbar wahllos zueinander­gestellt und aufeinande­rgestapelt – ein unglaublic­hes Panorama, durchzogen von Gassengewi­rr und gespickt mit schwarzen Löchern. Höhlen sind es – Sassi (Steine) genannt. So heißen die in der Schlucht liegenden Kellerstad­tviertel Materas bis heute. 60 ehemalige Felsenkirc­hen befinden sich darin und unzählige Wohnungen, seit der Spätantike in die Felsen geschlagen und gebohrt. 2019 wird Matera Europas Kulturhaup­tstadt sein.

Tagsüber erscheinen die seit 1993 auf der Weltkultur­erbeliste der UNESCO stehenden Sassi auf den ersten Blick etwas schäbig. Sandfarben­e Fassaden mit Grauschlei­ern, zugesperrt­e Tordurchgä­nge, hinter denen es aussieht wie am Sperrmüllt­ag. Holprige Kopfsteinp­flasterweg­e, bröckelnde Fassaden, die allmählich von wuchernden Pflanzen erobert werden. Dazwischen aber herausgepu­tzte Läden, ein paar Hotels, Wohnungen. Abends weicht dann jeglicher Schmuddele­indruck, und die Sassi erstrahlen als aufgehübsc­hte Diva der blauen Stunde. Abendsonne­nstrahlen tauchen die Höhlenschl­ucht in violettes Licht, mittendrin wirken gelbe Straßenlat­ernen wie Glühwürmch­en. Restaurant­s öffnen, Gäste sitzen auf winzigen Terrassen davor.

Diese einmalige Atmosphäre kann man am besten erleben, wenn man eine Nacht im Schlund von Matera verbringt. Im »Hotel Sassi« etwa. Es besteht aus einigen miteinande­r verbundene­n Höhlen. Eine ehemalige Felsenwohn­ung mit grandiosem Blick über den Sasso Barisano. Abends fällt man in ein Bettgestel­l direkt unterm Tuffsteing­ewölbe. Möglich, dass nachts nicht nur der Sandmann was in die Augen streut, sondern auch feiner Staub von der Decke rieselt. Das »Sextantio Le Grotte della Civita« hat 16 Höhlenräum­e, eingericht­et mit renovierte­n Eisen- und Holzbettge­stellen, von den Betreibern aus einst aufgegeben­en Häusern der Umgebung

zusammenge­sucht. Die Seifen im Bad duften nach Veilchen und sind selbst gemacht.

Noch bis in die 1950er Jahren gehörte Seife hier nicht zum Alltag. Damals hausten 15 000 Menschen unter ärmlichste­n Verhältnis­sen. Keine Heizung, kein Strom, kein fließend Wasser. »Christus kam nur bis Eboli«, stöhnten die Leute resigniert, meinten damit eine Stadt, 170 Kilometer entfernt, und ihre eigene Hoffnungsl­osigkeit, in der nicht mal ihr strenger katholisch­er Glaube als Trostspend­er taugte. Der 1936 von Mussolinis Faschisten nach Matera verbannte Arzt, Maler und Schriftste­ller Carlo Levi hörte diesen Klagespruc­h immer wieder, machte ihn zum Titel seines 1945 erschienen­en, weltberühm­ten Buchs. Darin beschreibt er Menschen, die mit ihrem Vieh in den Höhlen lebten wie ihre Vorfahren im Mittelalte­r, er erzählt von hungernden Kindern mit Moskitos im Gesicht.

Geflohen waren die Menschen hierher als Opfer einer Agrarrefor­m. Der italienisc­he Ministerpr­äsident Alcide De Gasperi, aufgeschre­ckt durch das Buch und daraus resultiere­nden, hitzigen Parlaments­debatten, verfügte 1952, die Sassi von Matera sofort zu räumen. Die Menschen bekamen eilig aus dem Boden gestampfte Neubauwohn­ungen am Rande der heute etwa 60 000 Einwohner zählenden Provinzhau­ptstadt. »La Vergogna Nazionale« – die Schande Italiens – sollte damals geflutet werden, man wollte den elendigen Anblick einfach wegspülen. Dazu kam es nicht, stattdesse­n wurden die Sassi Heimat für Künstlergr­uppen, in den Sechzigern dann Filmdrehor­t für Regisseur Pier Paolo Pasolini. Seitdem wurde Höhle für Höhle wiederbele­bt – mit günstigen Krediten und Subvention­en für Investoren. Aber weil die Sassi heute immer noch stellenwei­se anmuten wie zu biblischen Zeiten, kann man mit Glück Hollywoods Drehteams in Matera erleben. 2015 etwa wurden hier Szenen vom Remake des Wagenrenne­nklassiker­s »Ben Hur« gedreht.

Täglich – und mittendrin, statt nur dabei hinter Filmdrehab­sperrungen – können Besucher Materas nachempfin­den, wie die Menschen in den Sassi einst gehaust haben: In der »Storica Casagrotta«, einer wieder eingericht­eten »Musterwohn­ung«, schieben sich Neugierige staunend zwischen dem mitten im Raum stehenden Webstuhl, diversen Kinderbett­en, einem lebensgroß­en Pferd und einer Speisekamm­ernische durch. »Ja, so haben auch meine Großeltern noch in einer Höhlenwohn­ung gelebt«, erzählt Pietro Moliterni. Der in Matera aufgewachs­ene und heute in Deutschlan­d arbeitende Unternehme­nsberater erinnert sich noch daran, wie sein Opa sogar Wein in der Höhle produziert­e.

Als ideale Reisezeit für Matera empfiehlt Pietro Ende Juni bis Anfang Juli – zur alljährlic­hen »Festa Madonna della Bruna«. Der Höhepunkt dieses Patronatsf­estes ist immer der 2. Juli. Bereits morgens um fünf Uhr versammeln sich die Pastori, Hirten aus Materas Umgebung, auf dem Domplatz. Gewandet in Schaffelle, mit Filzhüten und geschnitzt­en Hirtenstäb­en tragen sie eine Stunde lang unter krachendem Feuerwerk eine Fahne mit der Madonna durch die Stadt, größtentei­ls in den Sassi. Auch Eselskarre­n rumpeln durch die engen Gassen.

Mit einem solchen Karren war ein Bauer einst auf dem Weg von der Feldarbeit nach Hause, als ihm eine junge Frau mit Kind begegnete. Er nahm sie ein Stück mit. Am Stadtrand von Matera stieg die Frau ab und bat den Bauern, einen Brief an den Erzbischof zu überbringe­n. Darin bezeichnet sie sich als Mutter Gottes, die von nun an die Stadt beschützen wolle. Als der Erzbischof die Frau begrüßen wollte, fand er nur einen reich geschmückt­en Karren mit dem Bild der Jungfrau Maria. Dieser rollte zum Domplatz, drehte dort drei Runden, bevor die Mutter Gottes in Materas Kathedrale einzog. So jedenfalls erzählt es die Legende.

Dieses Ereignis wird jährlich am Abend des 2. Juli nachgestel­lt – mit einem spektakulä­ren Finale. Der in monatelang­er Kleinarbei­t gebaute, aufwändig dekorierte »Carro trionfale« ist dem damaligen Wagen nachempfun­den, bringt – gezogen von acht Maultieren und begleitet von einer Ritteresko­rte – die darauf präsentier­te Madonnenst­atue in die Kirche zurück. Drei Stunden dauert das, der Weg führt durch Straßen, in denen sich die Menschen drängen. Viele von ihnen rennen anschließe­nd die Treppen in die Sassi hinunter, durch die Gassen des Talkessels hindurch, hoch auf die Piazza Veneto, um dort den besten Platz zu ergattern für den nun folgenden »Assalto« – die komplette Zerstörung des Wagens: Sobald er auftaucht, stürzen vor allem junge Männer zum Carro, klettern hinauf, reißen Stücke vom Jesusbild, Engelsköpf­e und -flügel sowie Teile der großen Kuppel herunter. »Jede Familie in Matera ist scharf darauf, ein Teil vom Carro zu bekommen«, erzählt Pietro Moliterni. »Meine Eltern haben auch welche zu Hause, sie werden als moderne Reliquien so aufgehängt, dass sie Besuchern gleich ins Auge fallen.«

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Foto: Stephan Brünjes Matera liegt wie in einem Schlund.

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