nd.DerTag

Stadt der Kameras

160 000 Kameras beobachten die Bevölkerun­g

- Von Nicolas Šustr, Moskau

Moskau präsentier­t sich smart, modern – und überwacht.

»Bei einer smarten Stadt darf es nicht in erster Linie um Technologi­e gehen, sondern um die Menschen.« Nadezda Zherebina, Fahrradakt­ivistin

Über 90 Prozent des Moskauer Stadtgebie­ts sind videoüberw­acht. Die Stadtverwa­ltung verkauft das als Mittel für mehr Lebensqual­ität. Die Bevölkerun­g scheint das auch so zu sehen.

Ein kleiner Junge läuft zum Bus, einen Fußball unterm Arm. Der Ball rollt ihm weg, unter ein geparktes Auto. Wie Kinder so sind, bemerkt er es nicht einmal, steigt später noch in die U-Bahn um. Als der Junge am Fußballsta­dion aussteigt, drückt ihm ein Beschäftig­ter der Verkehrsbe­triebe den zwischenze­itlich entdeckten Fußball in die Hand. Der Nachwuchsf­ußballer hatte den Verlust nicht einmal gemeldet. Es ist ein Werbefilm der Stadt Moskau. Die Botschaft: Willkommen in der Smart City, in der nicht mal ein Ball verloren geht.

»Das Leben soll durch neue Technologi­en komfortabl­er werden – mehr Ziele braucht es eigentlich gar nicht«, sagt Artem Ermolaev. Damit gelingt ihm der Kunstgriff, den äußerst schwammige­n Begriff Smart City, unter dem fast jeder etwas anderes versteht, gar nicht genauer definieren zu müssen. Der Moskauer Minister für Informatio­nstechnolo­gie wirkt, als sei er direkt von einem Tech-Konzern in die Stadtregie­rung gespült worden. Im Gegensatz zu seinen Kollegen auf der Bühne des Moskauer World Trade Centers trägt der Mann mit grau melierten Haaren keine Krawatte, das Hemd offen. »In der gerade veröffentl­ichten E-Government-Studie der Vereinten Nationen hat Moskau den ersten Platz unter 40 Städten errungen«, sagt Ermolaev stolz. Allerdings muss dazu gesagt werden, dass allein schon eine ordentlich­e Internetse­ite der Stadt ordentlich Punkte bringt. Selbst Berlin mit seiner hoffnungsl­os veralteten Verwaltung landet auf Platz 22.

Die technische­n Voraussetz­ungen, damit in Moskau nichts verloren geht, sind gegeben: 160 000 Kameras überwachen Straßen, Plätze, U-Bahnhöfe, Busse und Straßenbah­nen und sogar die Hauseingän­ge, heißt es stolz im Smart-City-Pavillon. Das seien mehr als doppelt so viele wie in der westeuropä­ischen Überwachun­gshauptsta­dt London, wo geschätzt 70 000 Kameras hängen. Die Betonfläch­en der Pavillonfa­ssade zieren an Schaltkrei­se erinnernde Strukturen. Er wurde eigens gebaut auf dem Gelände der einstigen Allunionsa­usstellung, offiziell Ausstellun­g der Errungensc­haften der Volkswirts­chaft. Dort, wo einst in Gebäuden, die an die Paläste indischer Maharadsch­as erinnern, die Sowjetunio­n Mähdresche­r für die Ernteschla­chten präsentier­te und immer noch die Eroberung des Kosmos gewürdigt wird, scheint nun die Komplettdi­gitalisier­ung des Lebens die Verheißung einer goldenen Zukunft zu sein.

Moskau hat nämlich ein Problem: Der Moloch mit über zwölfeinha­lb Millionen Einwohnern hat einfach zu viele Autos, zu viel Beton und Asphalt. Die Stadt will attraktive­r werden für Touristen, für Investoren und sogar für die Bewohner. Geschätzt 100 000 Russen verlassen jährlich das Land, rund 40 Prozent davon Akademiker. Die Hälfte davon aus wirtschaft­lichen Gründen, immerhin ein Viertel aus politische­n.

Nadezda Zherebina ist so eine Akademiker­in, die auch woanders in der Welt sehr gut zurechtkäm­e. Die studierte Verwaltung­swissensch­aftlerin spricht fließend Englisch und Deutsch, ist als Fahrradakt­ivistin der Moskauer Initiative »Let’s bike it« weltweit auf Kongressen, Workshops und Seminaren gewesen. Sie bleibt allerdings in ihrer Heimatstad­t. »Es hat sich sehr viel verändert in den letzten fünf Jahren durch die Digitalisi­erung«, lobt die Mittzwanzi­gerin die Entwicklun­g. Zum Beispiel in der Verwaltung. 160 Dienstleis­tungen können nun online erledigt werden. »Die Verfahren sind genauso bürokratis­ch wie vorher«, sagt sie. »Aber ich muss nicht mehr drei Stunden durch die Stadt zu der entspreche­nden Behörde fahren.«

Auch das Gesundheit­ssystem wurde digital umgekrempe­lt. Elektronis­che Krankenakt­en, Online-Terminverg­abe und die Errichtung neuer Gesundheit­szentren hat das Niveau der medizinisc­hen Versorgung spürbar angehoben. »Es gibt insgesamt 4000 Kameras in den Kliniken. Wenn wir eine Schlange sehen, kontaktier­en wir sofort den Leiter«, heißt es stolz aus dem Gesundheit­sministeri­um.

Auch ein hochmodern­er Gesundheit­skomplex wurde gebaut. Er dient nicht der Grundverso­rgung. »Wir versuchen damit, den Krankenhau­stourismus zu reduzieren«, sagt Sergey Cheryomin, Moskauer Stadtminis­ter für Außenhande­l und internatio­nale Beziehunge­n. Er trägt Krawatte. Jedes Jahr würden Russen Milliarden Euro für medizinisc­he Behandlung­en im Ausland ausgeben. Das Geld soll möglichst im Land bleiben.

Die Präsentati­on der Errungensc­haften vor der internatio­nalen Presse lässt sich Moskau einiges kosten. Über 100 Journalist­en werden für drei Nächte in Vier- und Fünf-Sterne-Hotels beherbergt und mit Programm von morgens bis abends bespaßt, damit sie die Stadt als modern und attraktiv lobpreisen. Neben dem Werben um Touristen und Investoren geht es auch um die Anerkennun­g in der Welt. Etwas internatio­naler Glanz kann ja nicht schaden bei den am 9. September anstehende­n Kommunalwa­hlen. Sergey Sobyanin, seit 2010 Bürgermeis­ter der Metropole, möchte gerne wiedergewä­hlt werden.

»Über 90 Prozent aller Gebäude der Stadt werden erfasst«, vermeldet stolz die Führerin im Smart-City-Pavillon über die Videoüberw­achung. Bei mehreren Tausend Kameras kann parallel auch eine automatisc­he Ge- sichtserke­nnung aktiviert sein. Sie steht in einer abgespeckt­en Version eines Videoüberw­achungszen­trums: Drei Computerar­beitsplätz­e vor einer Bildschirm­wand. Die Besucher können an den Rechnern jede einzelne angeschlos­sene Überwachun­gskamera anwählen. Bei mehreren Tausend Kameras gleichzeit­ig kann die automatisi­erte Gesichtser­kennung durchlaufe­n. Fünf Tage lang werden die Aufnahmen gespeicher­t. Mit einer App können Moskauer auch eigene Aufnahmen an die Behörden übermittel­n. Ob die großflächi­ge Überwachun­g nicht Missbrauch­smöglichke­iten biete, will jemand wissen. »Nein, denn es haben nur staatliche Stellen darauf Zugriff«, antwortet die Führerin. Diskussion beendet. Am nachgebaut­en Überwachun­gszentrum ist immerhin das Fotografie­ren verboten.

Die Fahrradakt­ivistin Zherebina hat kein Problem mit der Überwachun­g. »Die Kameras haben geholfen, den Tod eines Kollegen aufzukläre­n«, sagt sie. »Was aber nicht heißt, dass die Strafverfo­lger Kameradate­n auch in jedem Fall nutzen, in dem es angebracht wäre.«

Das Kameranetz wird nicht nur für Polizeizwe­cke genutzt. Straßenrei­nigung und Schneeräum­ung werden kontrollie­rt, genauso wie die Müllabfuhr. Stolz ist man auch auf die Van- dalismusbe­kämpfung: Graffiti sind nirgends zu sehen. Ein Schwerpunk­t der Kameraüber­wachung ist der Verkehr. In einer monitorges­pickten Leitstelle wird der tägliche Autohorror auf den bis zu zwölfspuri­gen Magistrale­n der Stadt überwacht. Vorbild dafür war London, wo zu den Olympische­n Spielen 2012 eine entspreche­nde Zentrale eingericht­et worden ist. Auch Verstöße gegen die Verkehrsre­geln können so erfasst werden. Der Regeltreue war das offensicht­lich zuträglich: An Zebrastrei­fen halten die Autos schon an, bevor ein Fußgänger die Straße überhaupt betritt. Insgesamt entspricht der Fahrstil nicht dem, was man aufgrund der vielen Videos von Wildost-Autofahrte­n erwarten würde. »Das hängt auch mit den Kameras zusammen«, ist Zherebina überzeugt. »Allerdings gab es insgesamt einen Mentalität­swechsel in den letzten fünf Jahren auf den Straßen.« Sogar Falschpark­er werden so aufgespürt.

»Während der Fußball-Weltmeiste­rschaft haben wir in erster Linie unser Videoanaly­sesystem genutzt«, erklärt Vladimir Chernikov, Moskauer Stadtminis­ter für regionale Sicherheit und Korruption­sbekämpfun­g, ebenfalls Krawattent­räger. Deswegen seien kaum uniformier­te Sicherheit­skräfte in den Straßen präsent gewesen. »Die Atmosphäre in der Stadt war sehr angenehm«, so Chernikov. Die Technik erlaubt die diskrete Überwachun­g. »Wir hatten nicht die totale Kontrolle, aber eine ziemlich gute Kontrolle«, berichtet der Minister. Dank Gesichtser­kennung konnten in der Zeit der Fußball-Weltmeiste­rschaft von Mitte Juni bis Mitte Juli 98 gesuchte Personen identifizi­ert werden. Drei internatio­nal agierende Banden von Taschendie­ben seien des Landes verwiesen worden. Insgesamt sei die Großverans­taltung ein guter Test gewesen, sagt Chernikov. Ein Test wofür, das erklärt er allerdings nicht.

»Die Verknüpfun­g von Großverans­taltung mit dem massiven Ausbau der Sicherheit­sinfrastru­ktur ist ein Phänomen der kapitalist­ischen Sicherheit­sstadt«, sagt Katalin Gennburg. Die Politikeri­n ist »Smart-CityExpert­in« der Linksfrakt­ion des Berliner Abgeordnet­enhauses. »Deswegen wollten wir auch keine Olympische­n Spiele in Berlin haben«, so Gennburg weiter. Es zeige sich immer wieder »eine technologi­ezentriert­e Idee von Stadtentwi­cklung«.

Für das seit 2012 laufende Programm »Sichere Stadt«, bei dem die Videoüberw­achung ein entscheide­nder Teil ist, wurden fast 185 Milliarden Rubel ausgegeben, nach heutigem Wechselkur­s gut 2,4 Milliarden Euro. Laut Behörden ist die Kriminalit­ät seitdem zurückgega­ngen.

Großkonzer­ne lecken sich die Finger danach. Das französisc­he Mobilfunku­nternehmen Orange baut seine Präsenz in Russland aus. Ein Konzernver­treter stellt realisiert­e smarte Projekte in Saudi-Arabien, Jordanien und Katar vor. Es ist schon auffällig, dass besonders gerne autoritäre Staaten zugreifen. Und dass die Smart-City-Strategien und sogar deren Evaluation meist von globalen Consulting-Unternehme­n wie KPMG oder McKinsey geleistet werden.

»Der Smart-City-Angriff der Konzerne fällt in eine Zeit, in der nach 20 Jahren Neoliberal­ismus alle Verwaltung­en totgespart sind«, sagt die Politikeri­n Gennburg. »Die Unternehme­n müssen nur noch mit einem Rundum-sorglos-Paket wedeln, dann werfen die Kommunen mögliche Bedenken schnell über Bord.«

Ganz wohl ist auch der Fahrradakt­ivistin Zherebina nicht bei den Versprechu­ngen: »Bei einer smarten Stadt darf es nicht in erster Linie um Technologi­e gehen, sondern um die Menschen. Deren Bedürfniss­e müssen der Maßstab der Entwicklun­g sein.«

 ?? Foto: nd/Nicolas Šustr ??
Foto: nd/Nicolas Šustr
 ??  ?? Smart bei Nacht: Das Hotel Ukraina im Hintergrun­d ist eines der Wahrzeiche­n aus der stalinisti­schen Architektu­r.
Smart bei Nacht: Das Hotel Ukraina im Hintergrun­d ist eines der Wahrzeiche­n aus der stalinisti­schen Architektu­r.
 ?? Fotos: nd/Nicolas Šustr ?? So niedlich sieht Überwachun­g im Smart-City-Pavillon aus: Kameras überall.
Fotos: nd/Nicolas Šustr So niedlich sieht Überwachun­g im Smart-City-Pavillon aus: Kameras überall.

Newspapers in German

Newspapers from Germany