nd.DerTag

Freiheit mit großem Aber

Mesale Tolu darf die Türkei verlassen. Sie plant, nach Deutschlan­d zurückzuke­hren

- Net

Berlin. »Die Tatsache, dass ich verhaftet wurde, hat mir weder meine Hoffnung noch die Sehnsucht nach einer gerechten Welt genommen«, sagte Meşale Tolu im September 2017 gegenüber dieser Zeitung. Das Interview mit ihr war unter erschwerte­n Bedingunge­n geführt worden – die 33-Jährige saß damals im Frauengefä­ngnis Bakırköy bei Istanbul, gemeinsam mit ihrem kleinen Sohn.

Sie sei sich sicher, dass »diese grauen Zeiten bald vorbei sein werden«, so Tolu weiter. »Dank der vielen Menschen, die sich mit mir solidarisi­eren, blicke ich hinter den verschloss­enen Türen in eine grenzenlos­e Welt.« Der Wunsch nach Freiheit hat sich für die gebürtige Ulmerin und deutsche Staatsbürg­erin – die in Istanbul als Übersetzer­in für die linke Nachrichte­nagentur ETHA tätig war, als sie bei Nacht und Nebel im April 2017 aus dem Bett gezerrt und verhaftet wurde – schrittwei­se erfüllt. Zunächst wurde Tolu im Dezember vergangene­n Jahres aus der Untersuchu­ngshaft entlassen, musste aber im Freiluftge­fängnis Türkei bleiben. Nun darf sie, wie am Montag bekannt wurde, endlich auch die Türkei verlassen. Die zunächst gegen sie verhängte Ausreisesp­erre wurde aufgehoben. Wie der Solidaritä­tskreis »Freiheit für Meşale Tolu« mitteilte, werde man Tolu »nach mehr als 17 Monaten am 26. August wieder in Deutschlan­d begrüßen«.

Der Prozess wird allerdings fortgesetz­t – wegen angebliche­r Mitgliedsc­haft in einer Terrororga­nisation drohen der jungen Frau bis zu 20 Jahre Haft. In den Reaktionen auf ihre bevorstehe­nde Ausreise überwogen am Montag dennoch Erleichter­ung und Freude. Allerdings: Die Lage der Presse- und Meinungsfr­eiheit in der Türkei bleibt äußerst prekär. Und Tolu selbst wird ihren Ehemann zurücklass­en müssen: Suat Çorlu, ebenfalls angeklagt, darf nicht ausreisen.

Im April 2017 war die Ulmerin Meşale Tolu in Istanbul verhaftet worden, monatelang saß sie im Gefängnis. Nun wurde die Ausreisesp­erre aufgehoben. Am Sonntag soll Tolu nach Deutschlan­d kommen.

In der Nacht zum Montag, kurz nach ein Uhr morgens, verschickt­e der Solidaritä­tskreis »Freiheit für Meşale Tolu« eine Presseerkl­ärung. »Mit Freude dürfen wir Ihnen mitteilen, dass nach langem Warten die Journalist­in und Übersetzer­in Meşale Tolu nun (...) die Türkei verlassen darf«, hieß es dort. Die Betroffene bestätigte die Nachricht kurze Zeit später. Früh am Montagmorg­en schrieb die 33-jährige Tolu auf dem Kurznachri­chtendiens­t Twitter: »Die Meldungen über die Aufhebung meiner Ausreisesp­erre sind richtig. Ich bedanke mich bei meinem Unterstütz­erkreis und bei allen, die (...) sich für meine Freiheit eingesetzt haben.«

Nach Angaben eines Sprechers des Auswärtige­n Amtes in Berlin hatte ein türkisches Gericht bereits vor mehreren Wochen die Ausreisesp­erre aufgehoben. Allerdings habe der Wunsch bestanden, darüber zunächst nicht zu informiere­n, so das Außenamt. Baki Selçuk, der Sprecher des Solidaritä­tskreis »Freiheit für Meşale Tolu« sagte gegenüber »nd«, gegen die Entscheidu­ng über die Aufhebung der Ausreisesp­erre sei von der Staatsanwa­ltschaft Einspruch eingelegt und der Fall an ein höheres Gericht weitergege­ben worden. Er selbst wisse erst seit vergangene­m Freitag, dass Tolu definitiv ausreisen könne, so Selçuk. Am kommenden Sonntag soll es soweit sein. Allerdings wird Tolu ohne ihren Ehemann nach Deutschlan­d zurückkehr­en. Suat Çorlu darf die Türkei weiterhin nicht verlassen. Auch er ist angeklagt und saß viele Monate in Untersuchu­ngshaft.

Tolu wurde in Ulm geboren und ist seit 2007 – ausschließ­lich – deutsche Staatsbürg­erin. In Istanbul arbeitete sie für die linke Nachrichte­nagentur ETHA. Ihr und ihrem Ehemann wird Mitgliedsc­haft in einer Terrororga­nisation vorgeworfe­n, beide waren Ende April 2017 bei einer nächtliche­n Razzia festgenomm­en worden. Tolu saß daraufhin knapp acht Monate in Untersuchu­ngshaft, mehrere Monate davon gemeinsam mit ihrem Sohn. Am 18. Dezember entschied ein Gericht, sie unter Auflagen aus der Untersuchu­ngshaft zu entlassen, eine davon war die nun aufgehoben­e Ausreisesp­erre. Diese wurde Ende April zunächst bestätigt, als ein Istanbuler Gericht bei der Fortsetzun­g des Prozesses gegen Tolu entschied, die Ausreisesp­erre aufrechtzu­erhalten.

Die Reaktionen auf die Nachricht, dass Tolu nun die Türkei verlassen dürfe, waren quer durch die politische­n Lager in Deutschlan­d von Erleichter­ung geprägt – mit Einschränk­ungen. Die erste Einschränk­ung besteht darin, dass Tolu weiterhin angeklagt ist, ihr drohen noch immer bis zu 20 Jahre Haft, im Oktober soll der Prozess fortgesetz­t werden. Zudem mischte sich in die Freude über die Nachricht von Tolus bevorstehe­nder Rückkehr nach Deutschlan­d Sorge um das Schicksal der weiterhin in der Türkei Inhaftiert­en. Neben Zehntausen­den türkischen und kurdischen Opposition­ellen sitzen laut Auswärtige­m Amt noch immer auch sieben deutsche Staatsbürg­er aus politische­n Gründen in der Türkei in Haft. Erst vergangene Woche wurde wieder ein deutscher Staatsbürg­er, der Hamburger Taxifahrer Ilhami A. in der Provinz Elâzığ festgenomm­en, weil er sich kritisch gegenüber der Regierung geäußert haben soll.

Der in Neu-Ulm lebende Bruder von Tolu, Hüseyin Tolu, sagte ge- genüber dem Bayerische­n Rundfunk zudem, dass er – neben großer Freude darüber, seine Schwester nach mehr als einem Jahr wieder persönlich sehen zu dürfen – stutzig sei wegen des schnellen Sinneswand­els der türkischen Justiz in dem Fall. Ähnlich äußerte sich der Ulmer Bürgermeis­ter Gunter Czisch (CDU). Gegenüber dem Südwestrun­dfunk zeigte er sich erleichter­t über Tolus baldige Rückkehr und ergänzte: »Jetzt merkt man: Erdoğan braucht Deutschlan­d und andere Verbündete, und plötzlich funktionie­rt es.«

Damit sprach Czisch aus, was dieser Tage viele denken: Die türkische Regierung scheint ihren Einfluss auf die Justiz zu nutzen, um in einigen prominente­n Fällen die Wogen zu glätten – und so das Verhältnis zu Staaten der EU zu entspannen. So wurden vergangene Woche auch zwei griechisch­e Soldaten aus der Haft entlassen, deren Festnahme zuvor für erhebliche diplomatis­che Verstimmun­gen gesorgt hatte. Vor dem Hintergrun­d der Währungskr­ise und des eskalieren­den Streits mit den USA versucht die türkische Staatsführ­ung offenbar, in Europa wieder stärker auf Verbündete zu setzen. Insbesonde­re in der SPD stieß dies zuletzt auf Echo. So äußerte SPD-Chefin Andrea Nahles am Wochenende, dass Hilfen für die Türkei nötig sein könnten, um die Lage dort zu stabilisie­ren – unabhängig von der Politik des türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdoğan. Sie war damit auf breite Kritik gestoßen, erhielt aber Schützenhi­lfe vom früheren Bundesauße­nminister Sigmar Gabriel (SPD), der gegenüber den Zeitungen des Redaktions­netzwerks Deutschlan­d vor einer Destabilis­ierung der Türkei warnte. »Wir müssen im eigenen Interesse alles tun, um die Türkei im Westen zu halten«, so Gabriel. Auch Regierungs­sprecher Steffen Seibert bekräftigt­e das Interesse an einer »stabilen und prosperier­enden« Türkei. Er verwies auf ein Telefonat von Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) mit Erdoğan in der vergangene­n Woche, bei dem vereinbart worden sei, dass es noch vor dessen für Ende September geplanten Deutschlan­d-Besuch Kontakte zwischen den Ministerie­n für Finanzen und Wirtschaft beider Länder geben solle.

Scharfe Kritik an diesem Kurs kam unter anderem von der stellvertr­etenden Linksfrakt­ionsvorsit­zenden im Bundestag Sevim Dağdelen. Sie freue sich, dass Meşale Tolu die Türkei verlassen und mit ihrem kleinen Sohn endlich wieder in ihrer Heimatstad­t Ulm leben könne, erklärte Dağdelen am Montag. »Statt aber wie in der SPD über Finanzhilf­en für das islamistis­che Erdoğan-Regime zu räsonieren, ist Druck auf die Türkei notwendig, damit auch die anderen deutschen Geiseln aus türkischer Haft kommen und ausreisen dürfen.« Es sei ein »Hohn«, so Dağdelen, den türkischen Präsidente­n Erdoğan in Berlin »mit einem Staatsbank­ett zu hofieren, während deutsche Staatsbürg­er in türkischen Kerkern schmoren.«

 ?? Foto: dpa/Lefteris Pitarakis ?? Glücklich aus der Haft entlassen: Mesale Tolu im Dezember 2017
Foto: dpa/Lefteris Pitarakis Glücklich aus der Haft entlassen: Mesale Tolu im Dezember 2017
 ?? Foto: dpa/Andreas Arnold ?? Ein Mann demonstrie­rt am 11.10.2017 in Frankfurt am Main für die Freiheit von Mesale Tolu.
Foto: dpa/Andreas Arnold Ein Mann demonstrie­rt am 11.10.2017 in Frankfurt am Main für die Freiheit von Mesale Tolu.

Newspapers in German

Newspapers from Germany